WiSe 13/14: Ulrich Bröckling, Jeder Mensch ein Künstler. Jeder Mensch ein Unternehmer. Resonanzen zwischen künstlerischem und ökonomischem Feld.

»Jeder Mensch ein Künstler«,[1] propagierte Joseph Beuys auf der documenta 5 von 1972. »Jeder Mensch ein Unternehmer«, sekundierte 36 Jahre später der Organisationsentwickler Karl Martin Dietz, Mitbegründer des Friedrich von Hardenberg Instituts für Kulturwissenschaften in Heidelberg und verantwortlich für die Entwicklung des Konzepts der »dialogischen Unternehmens-führung« bei der Drogeriemarktkette DM.[2] Beuys und Dietz verbindet auf den ersten Blick wenig, außer dass beide Sympathie für Rudolf Steiners Anthroposophie hegen. War Beuys’ gleichermaßen basisdemokratisch wie pädagogisch grundierte Erweiterung des Kunstbegriffs seinerzeit noch eine Provokation, so trifft die Formel des Dozenten am »Interfakultativen Institut für Entrepreneurship« an der Universität Karlsruhe ins Zentrum des neoliberalen Zeitgeists. Nimmt man die beiden Aussagen für bare Münze und setzt sie als Prämissen eines Syllogismus ein, so ergibt sich die zwingende Schlussfolgerung: Jeder Künstler ein Unternehmer beziehungsweise jeder Unternehmer ein Künstler.

Ist diese Gleichsetzung mehr als eine romantische Überhöhung des einen beziehungsweise eine schnöde Trivialisierung des anderen? Was folgt daraus, wenn man sie nicht deskriptiv, sondern präskriptiv liest – jeder Künstler soll ein Unternehmer, jeder Unternehmer soll ein Künstler sein? Welche Handlungs-orientierungen sind mit einer solchen Forderung verbunden? Was bedeutet es für die künstlerische, was für die unternehmerische Praxis, wenn sie sich an der jeweils anderen ausrichten soll?
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[1] Vgl. Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München/Wien 1998.
[2] Joseph Beuys, Jeder Mensch ein Künstler. Gespräche auf der documenta 5 1972, aufgezeichnet von Clara Bodenmann-Ritter, Frankfurt/M. 1975; Karl Martin Dietz, Jeder Mensch ein Unternehmer. Grundzüge einer dialogischen Kultur, Karlsruhe 2008,

www.hardenberginstitut.de/upload/Dateien/Publikationen/Dietz_Jeder_Mensch_ein_Unternehmer.pdf
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Ausgehend von diesen Fragen versuchen die folgenden Überlegungen Resonanzen zwischen den Rollenmodellen des Unternehmers wie des Künstlers heraus zu präparieren. Resonanzen sind nicht unabhängig von, aber sie sind auch niemals identisch mit den Impulsen, durch die sie ausgelöst werden. Das gilt erst recht, da in der Regel disparate Impulse sich überlagern. Künstler und Unternehmer verschmelzen nur selten zur homogenen Gestalt eines Künstlerunternehmers oder Unternehmerkünstlers, aber beide Rollenmodelle wirken aufeinander ein, wenn auch in asymmetrischer Weise: Die Anrufung des Unternehmers parasitiert weit stärker an der des Künstlers als umgekehrt, aber diese Indienstnahme verändert das Selbstverständnis beider.


[…] — Der Beitrag knüpft an ein ausführliches Gespräch mit Wolfgang Heiniger, Arnulf Herrmann, Irene Kletschke, Jörg Mainka, Leah Muir und Kirsten Reese an, das am 11. März 2013 in Berlin stattgefunden hat und aufgezeichnet wurde. Einige Ausschnitte aus dem Gespräch sind in den Artikel hineinmontiert – auch ein Versuch, Resonanzen deutlich werden zu lassen. — […]


Tyrannei des Neuen

Die Anforderungsprofile von Künstler und Unternehmer treffen sich zumindest in einem Punkt: Beide sollen kreativ sein. Kreativität bezieht sich auf die menschliche Fähigkeit, Neues zustande zu bringen. Ihre Grundlage ist die Vorstellungskraft als Vermögen zur Vergegenwärtigung des Abwesenden und, darauf aufbauend, die Phantasie als Vermögen zur Vergegenwärtigung des (Noch-)Nicht-Existenten.[3] Kreativ zu sein, heißt Distinktionen zu schaffen. Das kann die Erfindung bis dahin unbekannter Artefakte, Erkenntnisse und Sinndeutungen sein; neu ist aber auch die Rekombination oder Variation schon vorhandener, die Privilegierung zuvor entwerteter oder die Entwertung zuvor privilegierter Artefakte, Erkenntnisse und Sinndeutungen.[4] Die Möglichkeiten, Neues zu schaffen, sind unbegrenzt, entscheidend ist das Moment der Differenz. – Wer kreativ ist, ist in diesem Sinne immer schon postmodern.

[…] —

»Auf der einen Seite gibt es den Anspruch der Neuheit, dass man versucht, sich zu unterscheiden, indem man ständig neue Wege beschreitet. Gleichzeitig gibt es den Gegenimpuls, den der Regression, dass man sagt, man geht einfach wieder zurück. Was wäre die Alternative zwischen diesen Wegen? Wie kann man tatsächlich seinen eigenen Weg verfolgen, in dem Sinne, dass man sich von diesen Dingen erstmal frei macht?«

»Der eigene Weg ist nie völlig individuell...«

»Nein, natürlich nicht.«

»Was mich immer mehr interessiert, sind Strukturen von längerer Dauer. Wenn man auf eine Biografie blickt, nicht nur auf fünf oder zehn Jahre, wenn man merkt, dass tatsächlich jemand über eine Zeit hinaus eine gewisse Relevanz erzeugt hat. Was ist das? Wenn ich jeden Tag komponiere, wie schaffe ich es, über eine lange Zeit Dinge auszubauen und weiterzuentwickeln? Das ist vielleicht vergleichbar mit Grundlagenforschung. Das lässt sich nicht mehr mit dem Neuheitsbegriff fassen. Da spielen ganz andere Dinge eine Rolle.«

»Sind die Rezipienten beim Komponieren wichtig?«

»Ja und nein. Ich komponiere nicht für ein bestimmtes Publikum, aber ich versuche, verständlich zu sein.«

»Relevanz ist zunächst mal ein quantitativer Begriff.«

»Nicht unbedingt. Relevanz heißt, etwas hat einen Einfluss, es beeinflusst und interessiert andere Leute.«

»Ja, aber das ist nicht unbedingt eine Masse. Entscheidend ist, dass man merkt, es regt eine Auseinandersetzung an.«

— […]
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[3] Vgl. Heinrich Popitz, »Wege der Kreativität. Erkunden, Gestalten, Sinnstiften«, in: ders., Wege der Kreativität, Tübingen 1997, 80-132.

[4] Vgl. Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie,
München/Wien 1992.
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Kann man ernsthaft nicht kreativ sein wollen? Wohl kaum. Kann man seine schöpferischen Potenziale absichtlich ungenutzt lassen, auf Innovationen verzichten, sich dagegen entscheiden, irgendetwas Neues zustande zu bringen? Schwerlich. Der Wunsch nach Kreativitätsverzicht oder -verweigerung sprengt die Grenzen des in der Gegenwart Vorstellbaren. Er ist das konstitutive Außen einer Kultur, die Kreativität zum alternativlosen Heilswort erhoben hat. Was auch immer das Problem sein soll, Kreativität ist die Lösung. Von der Diagnose von Kreativitätsdefiziten lebt eine ganze Industrie, aber dass die Forderung nach mehr Kreativität nicht die Therapie, sondern selbst das Übel sein könnte, gegen das sie Abhilfe verspricht, das nur zu denken, erscheint heute so absurd wie die Vorstellung, man könne sich wünschen, krank statt gesund zu sein.

Das verallgemeinerte Kreativitätsdispositiv der Gegenwart etabliert ein Regime des Neuen, das auf Dauerhervorbringung ästhetischer Reize abzielt – der Situationist Guy Debord nannte das die »Gesellschaft des Spektakels«.[5] Das Neue ist in diesem Regime eine relationale Kategorie; es existiert nur in Abgrenzung vom Alten. Bar jeder Utopie, losgelöst von jedem Fortschrittsgedanken, ist es vor allem anders. Kreativ zu sein, heißt demnach, Distinktionen zu schaffen. Nur das Überraschende, Interessante und Sensationelle erzeugt genügend Intensität, um Affekte zu wecken und Aufmerksamkeit zu binden. Nichts ist öder als der Hype von gestern.

Das mantrahafte »Be different!« der Kreativitätsprediger erhebt die Abweichung von der Norm selbst zur Norm; seine Feinde sind Homogenität, Identitätszwang und Repetition. Normen stabilisieren Erwartungen, Neuerungen unterlaufen sie. Wer kreativ ist, muss Erwartungen enttäuschen. Auch das ist freilich eine Erwartung. Es ist dieses Doublebind eines konformistischen Nonkonformismus, das die Dynamik der Distinktion am Laufen hält und Kreativität zugleich entfesselt und normalisiert. Alle sind sich darin gleich, sich von den anderen unterscheiden zu sollen und zu wollen.

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[5] Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels (1967), Berlin 1996.
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[…] —

»Natürlich ist alles, was an Neuer Musik passiert, für die meisten Zuhörer ein Bruch mit der Tradition und somit ‚neu‘. Dennoch gibt es in der Neuen Musik- Szene mittlerweile selbst schon wieder Traditionen, die natürlich gegenüber dem Rest der Gesellschaft immer noch einen Bruch darstellen. Das ist die hybride Situation, in der wir uns permanent befinden.«

»Die Partei der institutionalisierten Revolution.«

»Genau! [...]«

»Wir haben in der Neuen Musik-Szene das Problem, dass es zwar viele Konventionen gibt, die sich irgendwann im Laufe der Zeit eingeschliffen haben, die aber nicht als explizite Regeln existieren. Diese Regellosigkeit ist in gewisser Weise ein Problem. Denn wem nützt dann die Regelabweichung, wenn sie im Publikum keiner merkt? Das ist anders als in der Klassik, in der ein gewisser Regel-Kanon existierte, der dem Publikum auch bekannt war. Wurden da z.B. die Achttaktigkeit oder andere Schemata unterlaufen, waren sie doch im Hintergrund präsent und dem Publikum auch bewusst. Das Problem heute ist: Wie breche ich Regeln, wenn der Regelkanon erst aus dem Werk selbst entsteht und eigentlich zuerst einmal kommuniziert werden muss, damit nachher klar ist, was da gerade verändert wird.

 — […]

Im Postulat der Alterität steckt zugleich eine Drohung: »Seien Sie besonders ... oder Sie werden ausgesondert!«, heißt es in einer Bauanleitung für Ich AGs,[6] eine Mahnung, die dem legendären »Sei spontan!« an Paradoxie in nichts nachsteht und gerade wegen ihrer Uneinlösbarkeit als Individualisierungsgenerator funktioniert. Nicht der Narzissmus eines gesteigerten Egos, sondern die blanke Angst, sich von den Konkurrenten nicht genügend abzuheben, treibt die Maschine an. Nach demselben Prinzip funktionieren die Aufnahmerituale an Kunstakademien und Musikhochschulen, die Publikationsentscheidungen in Verlagen und die Programm-planungen für Festivals und Konzertreihen.

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[6] Tom Peters, TOP 50 Selbstmanagement. Machen Sie aus sich die ICH AG, München 2001, 8.
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Schöpferische Zerstörung

Kreativität erscheint im Regime des Neuen sowohl als eine ökonomische Ressource, die der Markt mobilisiert und verbraucht, wie auch als Quelle künstlerischer Produktivität. Der Unternehmer muss, will er nicht untergehen, andere Waren herstellen als die Konkurrenz oder die gleichen in besserer Qualität, zu einem günstigeren Preis, in kürzerer Zeit, in auffälligerer Verpackung usw. anbieten. Das Feld der Kunst wiederum stellt ein Labor der Produktion von Neuem dar, seit die Moderne mit den klassischen Regelästhetiken aufgeräumt hat und nicht mehr die virtuose Reproduktion eines ästhetischen Schemas, sondern allein die Originalität des Ausdrucks zählen soll.

 […] —

»Es gibt heutzutage keinen allgemein verbindlichen Regelkanon mehr. Dennoch sind in den letzten 100 Jahren einige grundsätzliche Bereiche hinzugekommen, an denen man als Komponist nicht mehr vorbeikommt. Das sind z. B. Geräusche, Elektronik, oder auch Repetitionsstrukturen wie in der Minimalmusik. Allerdings sind das eher oberflächliche Raster, keine Regeln. Darum muss man ganz genau hingucken, wie der einzelne Komponist mit diesen Rastern umgeht, welche Ordnung er damit schafft und wie er diese Ordnung aufbricht. Das Aufbrechen von Ordnung entscheidet sich wirklich in jedem einzelnen Stück. Wie geht der Komponist mit dem um, was er selbst an Erwartungshaltungen schürt? Und wessen Erwartungshaltungen sind das eigentlich? Wir können uns nicht darauf verlassen, dass der Bruch erkannt wird wie in einer Zeit, in der es einen bestimmten Kanon und Konventionen gab. Eigentlich können wir uns nur darauf verlassen, dass wir uns immer wieder in einen Zustand bringen, in dem wir sagen, jetzt habe ich zwei Minuten komponiert, was sind meine Erwartungshaltungen für diese zwei Minuten. Wieweit sich das dem Hörer mitteilt, das ist eine völlige Blackbox für uns; das ist im Grunde bei jedem Hörer anders.«

— […]

 

Die »schöpferische Zerstörung«, die der Nationalökonom Joseph A. Schumpeter als genuine Funktion des Unternehmers identifizierte und die beinahe klingt wie die Parole des russischen Anarchisten Michail Bakunin, »Die Lust an der Zerstörung ist eine schöpferische«,[7] ist auch das Prinzip künstlerischer Produktion. Auch Künstler gelangen zu neuen ästhetischen Formen nur durch Absetzen von den bestehenden. Die Geschichte der modernen Kunst ist eine Geschichte von Sezessionen. Unangepasstheit ist in beiden Feldern zu kultivieren, weil sie authentischer Ausdruck künstlerischer Freiheit ist beziehungsweise ökonomisch gesehen ein Alleinstellungsmerkmal darstellt. Dafür gibt es keine Regel außer der, immer wieder die Regeln zu durchbrechen. Es existiert kein goldener Weg zum unternehmerischen oder künstlerischen Erfolg, keine Blaupause, die bloß zu kopieren wäre. Für genormte und normalisierte Disziplinarsubjekte ist weder hier noch dort Platz; gefordert sind Virtuosen des Alltags, die Exzentrik mit Effizienz verbinden.

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[7] Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942), München 1950, 120ff.; Michail Bakunin, »Die Reaktion in Deutschland« (1842), in: ders., Philosophie der Tat, Köln 1969, 96.
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 […] —

»Zur Neuen Musik gehört das permanente Zerstören von Ordnung, der Versuch, sinnvoll Ordnung zu zerstören. Ordnung herzustellen ist einfach. Irgendein Schema, irgendein Pattern vor sich hin rödeln zu lassen, das ist relativ simpel.«

»Das kommt darauf an, welchen Ordnungsbegriff man hat. Wenn man als Ordnung definiert, dass irgendein stumpfsinniges Muster durchläuft, klar, das ist total einfach. Wenn man eine höher strukturierte Ordnung entwerfen will, sieht das schon anders aus.«

»Ja, aber das ist dann eine Zerstörung von Einfachheit.«

»Na ja, das ist etwas, das Musik schon immer ausmacht, nicht nur die Neue Musik. Auch bei Beethoven ist ja gerade das Spannende, wie Ordnung hergestellt und wie sie gleich wieder infrage gestellt wird. Komponisten, die es verstanden haben, mit Konventionen kreativ umzugehen, die haben in ihren Stücken zum Teil total chaotische Situationen provoziert.«

»Das Einhalten der Regel galt in der Kunstmusik nie als ein Ideal. Es gab zwar immer wieder Bewegungen, die Regeln aufgestellt haben, aber gleichzeitig es gab es auch immer ein ausgeprägtes Ethos der gekonnten Regelverletzung.«

— […]

 Das Paradox 

Unternehmerische wie künstlerische Anrufung radikalisieren damit das Paradox der Individualisierung: Wenn jeder besonders sein soll, gleichen sich alle darin, sich von den anderen unterscheiden zu müssen. Und obendrein von sich selbst. Rimbauds »Ich ist ein anderer« – die Urformel des modernen, dezentrierten Subjekts – ist längst zum kategorischen Imperativ mutiert, Selbstentfremdung ist zur Schlüsselqualifikation geworden. Sich von anderen und von sich selbst zu unterscheiden, heißt Selbstinszenierung; der Künstlerunternehmer/Unternehmerkünstler ist eine sich fortwährend inszenierende und re-inszenierende Gestalt. Das Kreativitätspostulat einlösen können der Unternehmer wie der Künstler stets nur für den Moment. Beim einen verschwindet der Vorsprung, sobald die Mitbewerber aufgeschlossen haben, weshalb unternehmerisches Handeln permanente Innovation und Reklame und folglich unentwegt schöpferische Anstrengung erfordert. Der andere unterliegt den Beschränkungen der Aufmerksamkeitsökonomie.
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[8] — Vgl. Georg Franck,
Ökonomie der Aufmerksamkeit, München/Wien 1998.
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 […] —

»Das Ideal in der Neuen Musik sind Interpreten, die in Auseinandersetzung mit dem Komponisten ein Werk angemessen zur Sprache bringen und nicht als Ensemble einen Sound verkörpern wie in der Rockmusik. Da geht es um die Band, bei den Ensembles sollte das nicht so sein.« »Ensembles wie das Klangforum Wien oder das Ensemble Modern entscheiden selbst, wen sie als neues Mitglied aufnehmen. Die haben eine ziemlich genaue Vorstellung davon, welchen Typus Musiker sie wollen. Es kann sein, dass sich das in den letzten Jahren verschoben hat, aber die sprechen von sich im gewissen Sinne wie von einer Band, die sich aus diesen Charakteren zusammensetzt.«

»Aber es ist doch interessant, dass es auch eine Beleidigung sein kann, wenn ich sage, das ist der Ensemble-XYZ-Sound. Dass ein Klangkörper einen eigenen Klang hat, das wird auch als negative Bewertung verwendet.«

»Aber gleichzeitig ist es ein ›Brand‹, eine Marke.«

»Vor zwei Jahren gab es in Donaueschingen einen Ensemble-Vergleich. Da haben mehrere Ensembles dasselbe Stück gespielt…«

»Wir haben ein Uraufführungsphänomen in der Neuen Musik. Ganz viele Stücke werden einmal gespielt und danach nicht wieder. Eine Aufführungstradition, bei der die Musiker in ein Stück hineinwachsen, kann sich da kaum entwickeln. Unter diesem Aspekt war das Donaueschinger Experiment interessant. Alle haben ein bestimmtes Stück zum ersten Mal gespielt, aber man hat gehört, wie unterschiedlich es jeweils klang. Das ist es, was die Ensembles jetzt machen. Sie suchen ihre Alleinstellungsmerkmale, um dieses fürchterliche Wort zu verwenden.«

»Die Konkurrenz ist größer geworden, und alle müssen ihre klaren Labels entwickeln.«

»Früher haben sich die Ensembles darüber gerechtfertigt, dass sie neu waren. Das geht nicht mehr. Also versucht man, die eigene Tradition zu betonen, eine historische Kontinuität zu behaupten, um sie dann fortzusetzen. Das ist ein politisches Argument geworden.«

»Nicht der Bruch mit einer Tradition, sondern die Fortsetzung einer Tradition wird zum Legitimationsargument?«

— […]

 

Was dem Unternehmer die Kunden (gleich ob Endverbraucher oder Weiterverarbeiter) sind, ist dem Künstler das Publikum (auch in Gestalt von Kuratoren, Lektoren, Kulturmanagern oder Mäzenaten). Um dessen Ohren und Augen konkurriert er mit anderen Künstlern, wenn er gehört, gesehen, gelesen werden will. Sich um Publikumsresonanz keinen Deut zu scheren, ist zwar eine unter Künstlern nicht selten anzutreffende Attitüde, die man sich allerdings erlauben können muss. Ganz ohne – reale oder imaginierte, gegenwärtige oder künftige – Rezipienten kommt aber niemand aus. Kunst ist ein Modus sozialer Beziehung; es gibt keine schöpferischen Monaden. Der Künstler steht in der Auseinandersetzung mit anderen, auf deren Anerkennung er hofft oder deren Missachtung er fürchtet, mit denen er gemeinsam Ideen schmiedet oder die er meidet, um auf Ideen zu kommen, die ihm Probleme aufgeben oder deren Lösungen ihn nicht befriedigen, in deren Fußstapfen er tritt oder aus deren Fußstapfen er gerade heraustritt usw. Im ökonomischen wie im Kunstfeld gilt dabei: Einfach nur andere Wege zu gehen als die Masse, nützt gar nichts, solange sich niemand dafür interessiert.

 

Der Sog

Der Status der Künstler- wie der Unternehmerfigur ist prekär: Ein ganz und gar unternehmerisches Selbst gibt es so wenig wie einen reinen Markt; und man mag den Kunstbegriff noch so sehr erweitern, kein Künstler produziert allzeit und immer nur Kunst. Beide Gestalten existieren nur als Realfiktionen im Modus des Als-ob – als kontrafaktische Unterstellung, als Adressierung, als Fluchtpunkt von Selbst- und Sozialtechnologien, als Kraftfeld, als Sog. Dieser Sog zieht in eine Richtung, und es kostet eine Menge Kraft, gegen ihn anzuschwimmen. Aber man muss ihm nicht folgen, und es gibt stets andere Kraftlinien, die in andere Richtungen ziehen, was zu unvorhersehbaren Verwirbelungen führt. Gemessen an ihrem Anspruch bleiben die Anrufungen des Unternehmers wie des Künstlers schon deshalb
failing operations. Weil die Anforderungen grenzenlos sind, bleiben alle Anstrengungen ungenügend; weil sie unvollständig und widersprüchlich sind, zeitigen sie nichtintendierte Effekte. Sie konfrontieren die Einzelnen deshalb mit einer doppelten Unmöglichkeit – mit der, tatsächlich ein künstlerisches oder unternehmerisches Selbst zu werden, wie mit jener, die Forderung zu ignorieren, eines werden zu sollen. Niemand muss und kann dem Ruf unentwegt folgen, aber ein jeder hat doch beständig jene Stimme im Ohr, die sagt, es wäre besser, wenn man ihm folgte. Der Sog zieht noch in den sublimsten Bereichen des Alltags, und er bezieht seine Kraft gerade daraus, dass keine Zielmarke existiert, bei der man Halt machen könnte. So wenig es ein Entkommen gibt, so wenig gibt es ein Ankommen. Anders ausgedrückt: Künstler und Unternehmer ist man immer nur à venir – stets im Modus des Werdens, nie des Seins.

[…] —

»Das Werden, Werden, Werden, das ist tief in jeden Musiker eingeschrieben. Im Selbstverständnis begleitet einen das permanent. Ich glaube, das gilt gleichermaßen für Instrumentalisten wie Komponisten. Nur die Kategorie der Selbstverbesserung hin zu einem klar definierten Ideal, die ist fragwürdig. Es gibt ein starkes Bewusstsein, zumindest für mich, davon, dass es ein ›Besser‹ oder ›Ideal‹ im Sinne eines objektivierbaren, normativen Ziels nicht gibt.«

— […]

Plus ultra

Unternehmer müssen optimieren – die Produkte, die Produktionsabläufe, das Marketing, die Vertriebswege usw., und nicht zuletzt sich selbst. Künstler müssen optimieren – ihre Ausdrucksmöglichkeiten, ihre Virtuosität, ihren Stil, ihr ästhetisches Programm usw., und zuallererst sich selbst. Im Begriff der Optimierung steckt ein Superlativ. Optimierung ist nicht dasselbe wie Meliorisierung. Es geht nicht einfach nur um Verbesserung, sondern darum, das jeweils Bestmögliche herauszuholen – und noch ein bisschen mehr: plus ultra, immer weiter. Was das Bestmögliche wäre und wie dahin und darüber hinaus zu gelangen wäre, lässt sich freilich nicht auf einen Nenner bringen. Eine Typologie von Optimierungsweisen umfasst – mindestens – drei Regime. Diese haben unterschiedliche historische Einsatzpunkte und Konjunkturen; sie lösen einander jedoch nicht ab, sondern koexistieren und überlagern sich. Alle drei Optimierungsvarianten sind unabschließbar, alle drei verlangen fortwährende Anstrengung, doch der Modus der Unabschließbarkeit wie die Formen der Arbeit an sich unterscheiden sich gravierend:

Ein erstes Regime ist Optimierung als Perfektionierung: Der Maßstab ist hier eine Idealnorm, die angestrebt, wenn auch nie vollständig erreicht wird. Beständig droht ein Rückfall ins Imperfekte und Korrupte. Mit dem Perfektionieren wird man deshalb niemals fertig. Fluchtpunkt der Perfektionierung ist ein Ideal, das aus einer unterstellten »Natur« des Menschen abgeleitet wird. Jede und jeder Einzelne besitzt demnach qua Geburt ein spezifisches Entwicklungspotenzial, das seiner Entfaltung harrt. Die Talente brechen sich freilich nicht von allein Bahn, ihnen muss vielmehr durch individuelle wie kollektive Anstrengung nachgeholfen werden – Natur als Aufgabe. Aber diejenigen, die nach Perfektionierung rufen und streben, besitzen eine Vorstellung davon, was dieser zu realisierenden Natur entspricht und wie sie verwirklicht werden kann. Derselben Logik wie die Perfektionierung des Einzelnen soll auch die der Gattung folgen. Das Ideal der Vervollkommnung ist holistisch; Perfektionierungsprogramme beziehen sich stets auf den ganzen Menschen und/oder die gesamte Gesellschaft.

Bei der Optimierung als Steigerung ist der Maßstab quantitativ, wobei letztlich alles quantifizierbar gemacht werden kann: Auch für Qualität lassen sich messbare Indikatoren festlegen. Das Optimum selbst ist hier zwar nicht vorgegeben, wohl aber die Richtung, in der es angestrebt wird. Der Vektor wird ins Unendliche verlängert. Theoretisch ist grenzenlose Verbesserung möglich. Lernen kann man nie genug. Programme der Steigerung tendieren theoretisch zur wissenschaftlichen Rationalisierung im Sinne des one best way und praktisch zu Strategien der Disziplinierung und Selbstdisziplinierung. Ihr Wahlspruch lautet: Üben, üben und noch mal üben. Anders als die Programme der Vervollkommnung installieren sie eine Politik des Details: Um die Leistungen zu steigern, wird die Aufgabe zunächst in einzelne Elemente zerlegt, dann jedes Element für sich im Hinblick auf Einsatz und Ertrag rationalisiert, bevor am Ende die optimierten Elemente wieder neu zusammengesetzt werden.

[…] —

»Wir sind alle mal Musiker gewesen. Und da weiß man, dass das Üben auch Spaß macht.«

»Ich bin übrigens immer noch Musiker.«

»Du übst auch noch?«

»Ich sehe mich auch als Komponist nicht außerhalb.«

»Ich finde die Trennung interessant.«

»Du übst täglich?«

»Ich spiele täglich.«

»Üben ist keine Disziplinierungsmaßnahme, sondern Üben ist auch eine ausgesprochen befriedigende Tätigkeit.«

»Du formulierst gerade das pädagogische Ideal…«

»Nein, nicht das pädagogische Ideal, sondern den Grund, warum man das überhaupt tut.«

»Das gilt doch auch für jeden Leistungssportler, der muss auch üben, üben, üben. Und das macht niemand, wenn er nicht auch Freude daran hat, seine Bahnen im Becken zu ziehen oder die Runden zu laufen.«

»Beim Leistungssportler, gut, da gibt es den Endorphinstoß. Vor allem aber sind die Trainingserfolge quantitativ messbar. Das gibt es beim Üben in der Musik so nicht.«

»Und plötzlich kannst Du das Stück, das ist doch eine enorme Belohnung. Nicht als messbar erfüllte Leistung sondern als Gefühl der Aneignung.«

»Aber es geht nicht darum, es möglichst schnell zu spielen.«

»Doch auch.«

»Aber der Kern, warum Menschen sich das antun, ist doch ein anderer.«

»Es ist nicht ein ›um zu‹ «.

»Du übst etwas, weil du etwas können möchtest, einfach aus diesem spielerischen Impuls heraus, gar nicht zielorientiert, weil dir jemand sagt, du musst das Stück bis zur nächsten Woche können, sondern weil es dich reizt, das zu können.«

»Man weiß ja, dass, wenn man Dinge repetitiv tut, irgendwann ein sehr, sehr besonderer Bewusstseinszustand entstehen kann. Den muss man erfahren haben, und wenn man versucht, davon zu erzählen, wirkt das merkwürdig didaktisch. Man muss es erleben.«

»Man kann ihn auch nicht erzwingen. Der ereignet sich.«

»Das ist tatsächlich etwas, das gibt es nur als eine individuelle Erfahrung. Das ist tatsächlich in unserer Gesellschaft in Verruf geraten. Das ist einer der Gründe, sicherlich nicht der einzige, warum wir Klavierabteilungen haben, die zu hundert Prozent aus asiatischen Studierenden bestehen. Das ›Üben‹ ist ein Modell, das bei uns überhaupt nicht mehr attraktiv ist.«

»Ich habe zehn Jahre an Jugendmusikschulen unterrichtet, und die Alltagserfahrung an einer Jugendmusikschule ist eine komplett andere: Kinder wollen üben, die haben einen unfassbaren Spaß daran, dasselbe immer noch mal zu machen. Erst wenn die Kinder es als Disziplinierungsmaßnahme durchschauen, dann kippt es: Kinder verstehen unglaublich schnell, wenn die Eltern sauer werden, weil nicht eine halbe Stunde geübt wurde, wo sie doch so viel Geld ausgeben für den Unterricht. Dann hat man diese Schüler bei sich im Unterricht und merkt, wie unglaublich gerne sie plötzlich wieder üben sobald es nicht mehr als Disziplinarmaßnahme oder Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck, als Spielen verstanden werden darf. Es geht nicht um die Handlung, sondern um die Bezeichnung dieser Handlung.«

— […]


Der dritte Optimierungsmodus ist der
Wettbewerb. Hier ist der Maßstab rein relational und bestimmt sich im Verhältnis zur Konkurrenz. Was das Optimum ist und in welcher Richtung man es zu suchen hat, ist daher kontingent. Es gibt kein Ideal, an dem man sich ausrichten, keine eindeutigen Leistungsindikatoren, die man messen, sondern nur temporäre Spitzenpositionen, die man zu erlangen und gegen die Konkurrenz zu behaupten versuchen kann. Die Erfolgskriterien liegen nicht vorab fest, sondern ergeben sich allein aus den Präferenzen der Kunden beziehungsweise des Publikums und der Auftraggeber. Sie entscheiden, wer reüssiert, aber was sie veranlasst, sich für das eine Angebot zu entscheiden und die anderen liegen zu lassen, das ist schon deshalb nicht exakt prognostizierbar, weil die Motive ständig wechseln und sich vielfach überlappen. Der Wettbewerb honoriert nicht Perfektion oder Leistung, sondern was sich verkaufen lässt und/oder Aufmerksamkeit bindet. Nicht die Orientierung an Idealnormen oder kontinuierliche Verbesserung sind ausschlaggebend, sondern Alleinstellungsmerkmale. Gefordert sind nicht die Nachahmung eines Vorbilds oder wissenschaftliche Rationalisierung, sondern kreative Abweichung, Nonkonformismus und vor allem Kundenorientierung.

[…] —


»Wie stark spielt der Konkurrenzgedanke in der Musik eine Rolle, jenseits der Hochschulen? Wer bekommt denn die Aufträge? Wer ist der Auftraggeber? Gibt es da Ausschreibungen, auf die man sich bewirbt? Wie kommt man in den Kreis der Wählbaren?«

»Es gibt nicht das eine Modell, wie man zu einem Auftrag kommt. Es gibt Wettbewerbe. Es gibt Ensembles, die Aufträge vergeben. Es gibt Rundfunkanstalten und Festivals mit ganz unterschiedlichen Veranstalterstrukturen. Man hat einen ersten Kontakt, arbeitet vielleicht auch noch ohne Auftrag, dann wird man wieder gefragt, oder gibt es jemanden Dritten, der das hört, aufmerksam wird etc. – so weitet sich der Kreis.«

»Diese Abläufe sind alle sehr informell organisiert und stark von Netzwerken abhängig.«

»Genau. Das Ensemble Modern beispielsweise hat jedes Jahr ein Komponistenforum, dort laden sie so und so viele Komponisten ein, mit denen sie ein Stück erarbeiten und von denen fragen sie dann einige wieder an. Das kann dann bis dahin führen, dass ein Ensemble zu einem kommt und sagt, lass uns ein größeres Projekt zusammen machen. Es gibt da alle möglichen Spielformen.«

»Dieses Modell, dass sie zehn jüngere Leute einladen, das ist schon ein direktes Konkurrenzmodell. Da zeigt man was von sich, und wenn denen das gefällt, fragen sie einen noch mal.«

»Es ist nur insofern ein Konkurrenzmodell, dass man sich präsentiert und dass es gefällt oder nicht. Das bedeutet aber nicht, dass es der eine schafft und die anderen nicht. Es können im einen Jahr vier sein, und im nächsten Jahr ist es keiner. Es ist kein Hunderennen - kein Wettbewerb mit erstem, zweitem, drittem Platz.«

»Das ist natürlich auch im ökonomischen Wettbewerb so.«

»Es ist auch überhaupt nicht klar, ob die Einladung weiterführende Konsequenzen hat, ob das wirklich ein Einstiegsticket ist …«

»Genau, das weiß man nicht.«

— […]

Optimierung bedeutet in diesem Regime den Zwang, sich von den Mitbewerbern abzuheben. Weil die Konkurrenz nicht schläft, darf es niemand. Das macht permanentes Neujustieren notwendig und erzwingt ein Diktat des Komparativs, dessen Vergleichspunkte und Maßstäbe sich fortwährend ändern. Optimierung im Zeichen des Wettbewerbs operiert deshalb kybernetisch: Sie installiert Feedbackschleifen und Technologien des (Selbst-) Monitorings, die kontinuierliche Anpassungen an sich ebenso kontinuierlich wandelnde Sollwerte bewerkstelligen sollen. Dazu dienen Rankings und andere Hitparaden ebenso wie die unvermeidlichen Evaluationsrituale, Kunden- und Publikumsbefragungen – oder das »Liken« bei Facebook. Wie auch immer das Echo ausfällt, mit dem Lernen beginnt man immer wieder von vorn.

» ›Neu‹ hat in der Musik nie bedeutet, ›besser‹. Es gibt zwar den Imperativ, Neues zu schaffen. Niemand möchte schreiben, wie früher geschrieben wurde. Man möchte nicht kopieren.«
»Aber ›besser‹ als Bach oder Beethoven, das wäre anmaßend und es wäre auch keine brauchbare Kategorie.«
»Das gibt es vielleicht beim einen oder anderen noch – im Sinne eines Vatermordes – bezogen auf den eigenen Lehrer, aber im Gesamten gibt es diese Idee nicht.«
»Immer ›anders‹, aber nicht ›besser‹.«
»Ja, ›anders‹ trifft es, trifft es viel eher als ›neu‹. Und auf keinen Fall ›besser‹.«

[Fortsetzung von —› DEZ]


Auf der Differenz zwischen totalitärem Anspruch und seiner stets nur partiellen Einlösung beruht die Wirksamkeit der Anrufungen des Unternehmers wie des Künstlers – sie erzeugt den Sog (s. dazu die »Dezember«-Folge). Dieselbe Lücke schafft jedoch auch Raum, um auf Distanz zu diesen Anrufungen zu gehen, sie umzudeuten, ins Leere laufen zu lassen, zu verschieben oder zurückzuweisen. Weil die Anrufungen des Künstlers wie des Unternehmers Abweichung statt Konformität, Überschreitung statt Regelbefolgung fordern, kurzum weil sie fordern, anders zu sein, steht jeder Versuch, dem Distinktionsimperativ etwas entgegenzusetzen, vor der paradoxen Aufgabe, anders anders zu sein. Paradox ist die Formel vom Anders-anders-Sein, weil sie formallogisch gesehen in einen Zirkel mündet: Schon das Anders-Sein markiert keinen Zustand, sondern eine Relation. Der Forderung, anders zu sein, kann man nur folgen, indem man sich fortwährend absetzt. Anders anders zu sein würde demnach bedeuten, sich davon abzusetzen, sich abzusetzen. Doch wie sich vom allgemeinen Distinktionszwang distanzieren, ohne damit wiederum zum schlichten Nachahmer zu werden? Dem Konformismus des Anders-Seins entkommt man nicht mit nonkonformistischer Selbstgleichschaltung.

 

Weder logisch noch praktisch scheint ein Weg aus diesem Zirkel herauszuführen. Die Macht von Paradoxa beruht darauf, dass sie Unauflösbarkeit suggerieren und deshalb als Probleme prozessieren. Weil man paradoxen Anforderungen weder genügen noch ihnen entkommen kann, bleibt man in Bewegung. So wie jener sprichwörtliche Hund, der rennt und rennt, um die Wurst zu erwischen, die ihm vor der Nase baumelt, ohne sie je zu erreichen, weil die Angel, an der sie hängt, auf seinem eigenen Rücken befestigt ist. Auch die Menschen dazu zu bringen, immer weiter zu rennen, genau das soll die Anrufung des Künstlerunternehmers/ Unternehmerkünstlers leisten. Nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Unmöglichkeit sind Paradoxa deshalb ein wirksames Mobilisierungsinstrument, an dem die herkömmlichen Waffen der Kritik stumpf werden. Paradoxa installieren eine Diskursfalle und immunisieren sich gegen Widerspruch, indem sie die Widersprüchlichkeit selbst zum Prinzip erheben. Wer sich nicht im Spiegelspiel der Imperative des Andersseins verfangen will, muss daher den Rahmen verlassen, der die Negation des Status quo zur Bedingung seines Fortbestehens macht und Kritik immer schon als höhere Form der Affirmation einbaut.

Auf einen festen Standpunkt, von dem aus sie ihr »Nein« formulieren könnte, muss die Subversion des Künstlerunternehmers/ Unternehmerkünstlers daher verzichten. Gegen die Zumutungen des permanenten Anderssein-Sollens hilft weder das Pathos der Verweigerung noch der Furor der Überbietung. Wenn Devianz zur Regelanforderung wird, ist notorischer Nonkonformismus der Gipfel der Angepasstheit. Spreizt sich aber der Verzicht aufs Neue zum Prinzip auf, markiert auch das eine schöpferische Differenz und kann auf Distinktionsgewinne hoffen. Traditionalismus kann so marktgängig sein wie Avantgardismus; Originalitäts- und Wiederholungszwang sind zwei Seiten derselben Medaille. Selbst der Einspruch, der Ungehorsam, die Regelverletzung lassen sich in Strategien ummünzen, die Wettbewerbsvorteile versprechen; und jeder Misserfolg belegt nur, dass man sich cleverer hätte anstellen können.

»Der Diskurs um das Verhältnis von Kunst und Ökonomie geht in zwei Richtungen: Auf der einen Seite sagt man, Künstler sind auch Unternehmer, und überhaupt die allerersten Unternehmer waren die Künstler. Das hat gegenüber den Künstlern einen kritischen Einschlag: Ihr denkt bloß, ihr seid wirtschaftsfern und reine Selbstausdrucksvirtuosen, aber in Wirklichkeit seid ihr auch bloß unternehmerische Subjekte. Auf der anderen Seite heißt es, wenn wir als unternehmerische Selbste erfolgreich sein wollen, tun wir gut daran, uns am Modell des Künstlers zu orientieren. Die Künstler werden zum Leitbild, weil sie kreativ sind und obendrein meist tatsächlich als Ich AGs oder Ein-Personen-Brands auftreten.« 
»Geht es nicht viel eher darum, dass man eine Sache um ihrer selbst willen tut? Ist das nicht das zentrale Merkmal, das uns Künstler tatsächlich unterscheidet? Wir reden jetzt hier über Branding und dass man sich in einem Markt bewegt, aber das Kerngeschäft, das, was ich jeden Tag tue, ist etwas, das ich um der Sache selbst willen tue.« 

»Die Leidenschaft des Künstlers, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, stellt eine Ressource dar, die man in der Arbeitswelt und sonst wo nutzen kann. Gerade sie macht ihn zum Modell für den Rest der Gesellschaft. Wenn die Leute nicht mehr nur auf Kommando, nicht mehr nur um des Geldes oder um der Reputation willen Dinge tun, sondern überzeugt werden können, was sie tun, aus innerem Antrieb heraus zu tun. Wenn sie wollen, was sie sollen.«

»Ich glaube, in dem Moment, in dem das ernst genommen würde, würde es scheitern, oder?« 

»Man würde scheitern, wenn man nur den Märkten nachrennt. Alle versuchen, immer besonderer zu sein, und einige sind dann halt nicht die Besondersten und bleiben auf der Strecke.«

»Der größte Teil der Komponisten gehört zu denen, die auf der Strecke bleiben, die nicht die großen Stars sind, aber lustigerweise tut ihnen das gar nicht sonderlich weh. Es ist zwar lästig, und es ist vielleicht ökonomisch ein Problem, aber für das Selbstbild ist es nur bedingt problematisch, es sei denn, es handelt sich um neurotische oder narzisstisch gestörte Persönlichkeiten. Man hört ja nicht auf zu komponieren, bloß weil man keinen Erfolg hat.« 

»Außerdem ist Erfolg immer relativ. Wenn man erfolgreich ist, gibt es ja immer noch größere Erfolge.«  

»Deswegen ist mir ja dieser Satz, dass man eine Sache um ihrer selbst willen tut, das Wichtigste. Wohin führt denn eine wie auch immer geartete Karriere, was ist das Ziel? Wenn es schon ökonomisch nicht besonders ertragreich ist, will ich die Reputation ins Unermessliche steigern? Das ist doch alles vollkommen uninteressant. Das trägt einen irgendwann nicht mehr. Für mich war es immer ein Ziel, mit den Musikern zusammenarbeiten zu können, mit denen ich zusammenarbeiten will. Das ist jenseits von jeder Ökonomie. Wenn man Ideen auf einem bestimmten Level umsetzen kann, ist das ein unglaublicher Glücksgewinn. Das hat mit ökonomischem Erfolg gar nichts zu tun.«

     […]

Die Waren- wie die Aufmerksamkeitsmärkte »verarbeiten« unentwegt Alteritäten, indem sie diese entweder als Alleinstellungsmerkmale privilegieren oder sie als unverwertbar aus dem gesellschaftlichen Verkehr ausschließen. Die Kunst, anders anders zu sein, wäre der Versuch, immer wieder die Unausweichlichkeit dieser Alternative in Frage zu stellen und Wege jenseits von Einverleibung und Aussonderung aufzutun. Sie verlangt deshalb immer neue Absetzbewegungen, Kreativität, ein geschicktes Ausnutzen von Gelegenheiten, den Mut zur Zerstörung Beweglichkeit, Eigensinn – und damit selbst durchaus unternehmerische beziehungsweise künstlerische Tugenden. Die Virtuosen des Anders-anders-Seins beschleunigen nicht einfach nur den Wettbewerb der Alteritäten und präsentieren sich keineswegs bloß als geschicktere Marketingspezialisten in eigener Sache. Beharrlich kontern sie vielmehr den Distinktionszwang mit ihrer Indifferenz. Sie wissen, dass man nicht nicht kreativ sein kann, aber lachen darüber, allzeit kreativ sein zu sollen (und wollen zu sollen). Gegen das ökonomische Gebot der Nutzenmaximierung setzen sie die Spiele der Nutzlosigkeit, gegen den künstlerischen Originalitätszwang die Listen der Modulation und bestehen darauf, dass es jenseits der Nötigung zu wählen und der Unfreiheit, nicht wählen zu dürfen, noch etwas Drittes gibt: die Freiheit, nicht wählen zu müssen. Doch auch das Nicht- Entscheiden und Nicht-Tun erheben sie keineswegs zur alleinigen Maxime, des traurigen Schicksals Bartlebys eingedenk, jener literarischen Ikone intensivierter Passivität, der mit seinem konsequenten »I prefer not to« schlussendlich im Gefängnis verhungerte.[9] Anders anders zu sein, schließt Verweigerung ebenso ein wie Verweigerung der Verweigerung.

Das impliziert ein taktisches und nicht strategisches Vorgehen, um eine Unterscheidung Michel de Certeaus aufzunehmen. Während Strategien Aktionen sind, »die aufgrund der Voraussetzung eines Macht-Ortes (der Besitz von etwas Eigenem) theoretische Orte (totalisierende Systeme und Diskurse) schaffen«, ist taktisches Handeln gerade »durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt«. Der Taktiker hat keinen Feldherrnhügel, von dem er Herabblicken könnte, sondern steht mitten im Getümmel; er folgt keinem Schlachtplan, sondern vertraut auf den günstigen Augenblick. »Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie muß mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert. Sie ist nicht in der Lage, sich bei sich selbst aufzuhalten, also auf Distanz, in einer Rückzugsposition, wo sie Vorausschau üben und sich sammeln kann. […] Sie muß wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Eigentümer auftun. Sie wildert darin und sorgt für Überraschungen.«[10]

Strategien und Taktiken gehören unterschiedlichen Wissens und Handlungsordnungen an: Der Sog der unternehmerischen und künstlerischen Anrufungen lässt sich planvoll erzeugen, die Widerstände dagegen nicht. Man muss mit ihnen rechnen, und die Programme rechnen mit ihnen, doch sie sind nicht berechenbar. Es gibt eine Wissenschaft des Regierens, aber keine des Nicht-regiert-werden-Wollens. Beschreibungen der Kunst, anders anders zu sein, bleiben daher stets anekdotisch. Man kann Geschichten des Nichtfunktionierens oder des Umfunktionierens erzählen, Theorien daraus ableiten kann man nicht. Theorien verallgemeinern, sie fallen in die Sphäre der Strategie; Taktiken sind singulär, sie setzen sich aus Ereignissen zusammen.

[…] —

»In den 60er und 70er, vielleicht auch noch in den 80er Jahren waren die politischen Richtungen viel klarer definiert. Heutzutage ist das, das sieht man schon an den Parteien, nicht mehr so einfach. Damals hat man sich die Frage gestellt, schreibe ich für Orchester oder nicht? Das war auch eine politische Frage. Ein Orchester, das stand für die alte Tradition, das war ein hierarchischer Apparat usw. Da konnte man der Auffassung sein, das steht auch für das alte Gesellschaftsbild, das lehne ich grundsätzlich ab. Heute sagt man sich, es gibt bestimmte kompositorische Dinge, die kann ich nicht anders realisieren als mit so einem Apparat. Die wenigsten würden heute noch sagen, nein, aus politischen Gründen mache ich das nicht. Wenn ich für das, was ich musikalisch machen will, ein Orchester brauche, dann verzichte ich nicht darauf.«

 »Wir sind pragmatischer geworden, opportunistischer. Die Fronten sind nicht mehr so klar; man weiß genau, das ändert eh nichts. Ich würde dennoch nie sagen, es gibt Sachen, dafür brauche ich das Orchester. Ich weiß, was du meinst und es stimmt sicher, ein Orchesterstück wird immer ein Orchesterstück sein. Nur kann man immer noch sagen, ich mach halt mit anderen Mitteln etwas anderes. Und es entspricht trotzdem meinen Vorstellungen.« »Es ist eine andere Haltung, wenn ich jetzt sage, ich benutze den Apparat, und ich weiß, warum. Wenn ich mich auf etwas historisch beziehen will, brauche ich unter Umständen das Orchester.«

 »Aber das ist doch auch eine politische Aussage, eine politische Haltung. Damals war es sinnvoll zu sagen, ich schreibe nicht für das Orchester, aus der Idee des Bruchs heraus. Heute spielt die Idee des Bruchs kaum mehr eine Rolle. Dass die Leute jetzt wieder, quasi in Anführungsstrichen, Orchesterstücke schreiben, das ist ein politisches Statement.«

 »Man schaut auf die gleiche Sache komplett anders, auch jenseits des Bruchs. Unter den ökonomischen Zwängen, wie wir sie heute erleben, hat sich noch einmal etwas geändert: Ich habe in den letzten Jahren gemerkt, was für eine absurde Freude ich entwickle, in ein Orchesterkonzert zu gehen und 120 erwachsene Menschen zusammen Musik machen zu sehen. Ich finde, das hat eine solche Kraft, dass Menschen trotz aller Probleme ihr Leben diesen Instrumenten widmen und zusammen Musik machen. Das ist etwas unglaublich Anarchisches.«

 »Die antiökonomische Verschwendung, die das bedeutet…«

 »Ja, genau. Darum finde ich diesen Apparat so wunderschön. Ich finde das irre, dass Leute, die sich nach außen ja durchaus den Anschein der Seriosität geben, da sitzen und zusammen einfach nur Klänge erzeugen. Ganz egal, welches Repertoire sie spielen!«

 

»Das mit der Verschwendung finde ich einen ganz wichtigen Gedanken. In der jetzigen Situation, in der die Orchester dicht gemacht werden sollen, hat es etwas Anarchisches – gerade weil es ein Luxus ist. Das hat natürlich damit zu tun, dass es eine ganz klare Staffelung gibt, wofür Geld ausgegeben wird: Für das, was sich konservieren und zehnmal senden lässt, womit ich Millionen Leute erreiche. Ein Konzert für wenige Leute, das passt da nicht ins Bild. Eine blöde Samstagabendshow, davon könnte man ein Orchester 30 Jahre lang finanzieren. Aber die gucken eben 15 Millionen. Die Relationen haben sich völlig verschoben. Eine Rundfunksendung mit Neuer Musik, die 10.000 Leute hören, das ist für Rundfunkleute absurd wenig. Aber wenn man sich vorstellt, das wäre ein Konzert und da sitzen die 10.000 Leute, das wäre ein gigantisches Erlebnis. Unter diesem Gesichtspunkt, der viel mit den Medien zu tun hat, hat die Tatsache, dass hoch bezahlte Leute, die ihr Leben einem Instrument gewidmet haben, sich zusammenfinden und sagen, genau das wollen wir machen, etwas unzeitgemäß Anarchisches.«

 […]-

 Kritische Reflexion, so verstanden, ist kein Gegenprogramm zur unternehmerischen beziehungsweise künstlerischen Selbstprogrammierung, sondern die kontinuierliche Anstrengung, sich dem Zugriff gleich welcher Programme wenigstens zeitweise zu entziehen. (Es entbehrt nicht der Ironie, diesen Satz ausgerechnet für einen Programmflyer zu schreiben…) Es käme darauf an, den Energiefluss zu unterbrechen statt ihn umzupolen. Widerstand als permanente Absetzbewegung statt als Suche nach dem einen point de résistance, nicht als Gegenkraft, sondern als ein Außerkraftsetzen. Gelingen kann das bestenfalls für den Moment, aber es sind diese Momente, die schlagartig erkennen lassen, dass der Sog nicht unausweichlich ist. [FIN]

[9] — Herman Melville, Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall-street (1853), München 1980.

[10] — Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 91, 89.

Jenseits von Norm und Abweichung – Fragen und Antworten

Wenn wir davon ausgehen, dass das »Regime der Aufmerksamkeit« (s. dazu die »Dezember«-Folge) in der Kunst des Abendlandes seit der Romantik die Ästhetik zumindest mitbestimmte, kann man die Mechanismen unternehmerischen Handelns, die Sie beschreiben, als Abbild oder besser Zerrbild künstlerischen Handelns sehen. Hat sich das zeitgenössische Bild des Unternehmers nach dem Bild des romantischen Künstlers geformt oder der zeitgenössische Künstler nach dem Bild des Unternehmers?

In der Geschichte des modernen Unternehmertums dominieren zunächst andere Modelle als das des Künstlers: Unternehmer im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden beschrieben

und beschrieben sich selbst als heroische Führer und weise Lenker ihrer Unternehmen oder als geniale Erfinder und Innovatoren. Das romantische Bild des Künstlers war dagegen eher durch hochsensible Außenseitergestalten geprägt, die zwar ökonomisch gesehen meist als Kleinselbständige agierten, in ihrem Alltag jedoch häufig gerade an der Unvereinbarkeit von künstlerischer Authentizität und Selbstvermarktung scheiterten. Die beiden Rollenmodelle haben sich erst in dem Maße annähern können, in dem Kreativität zur ökonomischen Ressource aufgewertet wurde und die immaterielle Produktion (von Zeichen, Bedeutungen, Informationen, Wissen oder Affekten) gegenüber der Fabrikation von Dingen an Bedeutung gewonnen hat. Meinem Eindruck nach parasitiert das ökonomische Feld stärker am künstlerischen als umgekehrt. Dass Künstler auch Unternehmer sind oder sein sollen, ist recht trivial und meist nicht viel mehr als der Appell, der wirtschaftlichen Realität ins Auge zu sehen.

Ihre Idee der kontinuierlichen Anstrengung, sich dem Zugriff gleich welcher Programme wenigstens zeitweise zu entziehen (s. dazu die »Januar«-Folge), verstehe ich durchaus als Programm, das seine Richtigkeit nicht durch seinen scheinbaren inneren Widerspruch verliert. Unklar bleibt für mich daran die Abgrenzung gegenüber dem Rückzug in den Schrebergarten. Wenn wir Kunstschaffen als Teilnahme an der Welt annehmen, wie sichern wir, dass das »Entziehen« nicht in eine autistische radikale Individualisierung abgleitet?

Entziehen heißt nicht, sich zurückzuziehen. Um im Bild zu bleiben: Der Schrebergarten steht ja selbst als Chiffre für ein Programm– das einer Einbindung des Einzelnen in ein soziales Gefüge mit entsprechenden Vorstellungen von Selbstversorgung (selbstgezogener Salat!), Vergemeinschaftung (der Kleingärtnerverein!) und Ordnung (kein Wildwuchs!) usw. Dasselbe gilt für das, was Sie »autistische radikale Individualisierung« nennen. Das zu erreichen, setzte eine Strategie der systematischen Selbsttransformation voraus. Genau gegen solche Forderungen nach permanenter Arbeit an sich richtet sich die Suche nach Praktiken des Andersanders-Seins. Möglicherweise betont meine Kritik an den Zumutungen methodischer Lebensführung und des Social Engineering zu sehr das spontaneistische Moment. Selbstverständlich kommt man ganz ohne Methodik, Fremd- und Selbststeuerung, ohne das, was Michel Foucault die »Menschenregierungskünste« und »Technologien des Selbst« genannt hat, nicht aus. Doch es macht einen elementaren Unterschied, ob ich Probleme grundsätzlich auf Planungsdefizite und mangelhafte Programme zurückführe und folglich mehr Planung und bessere Programme einfordere, oder ob ich den Furor des Planens und Programmierens für ein weit größeres Problem halte und den Exzessen der methodischen Selbststeuerung etwas entgegen zu setzen versuche. Das größere Problem liegt meines Erachtens heute in diesem dauernden Sichhandselbst Programmieren und -Optimieren. Viel wäre schon gewonnen, wenn man aus dieser Logik aussteigen würde. Man muss sich nicht coachen lassen. Man muss keine Ratgeber lesen. Man kann das auch sein lassen.

Die Ähnlichkeit der Wirklichkeiten von Unternehmern und Künstlern ist, zumindest für viele Künstler, ein beunruhigender Gedanke. Im 20. Jahrhundert haben viele Künstler ihre Arbeit immer auch als Institutionenkritik verstanden. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann unterwerfen sich diese aber trotzdem dem »Regime des Neuen« und strudeln im selben »Sog«, den sie kritisieren (s. dazu die »September/ Oktober«, »November«-Folgen). Würden Sie so weit gehen zu sagen, dass Institutionenkritik (oder was man früher gemeinhin »Gesellschaftskritik« nannte) durch die Kunst letztlich unmöglich geworden ist, weil sie sich der Mittel bedienen müsste, die sie sich zu kritisieren vorgenommen hat?

Nein, ich habe die künstlerische Institutionenkritik immer so verstanden, dass sie genau diese Zusammenhänge thematisiert. Das hat ihr ja nicht zuletzt den Vorwurf eingebracht, sie sei »sperrig«, allzu intellektuell. Dass auch Institutionenkritik zu einem Label geworden ist, über das Distinktion und Aufmerksamkeit im Kunstfeld zu gewinnen sind, bedeutet nicht, dass sie hinfällig geworden ist, sondern dass sie sich auch auf sich selbst zu richten hätte. Und das geschieht ja auch längst.

Sie beschreiben anschaulich, welchen Optimierungsstrategien das künstlerische und unternehmerische Selbst sich aussetzt, um zu Erfolg zu kommen, um auf dem Markt »begehrter« zu sein als die Konkurrenz. Wenn aber »Erfolg« zum Zweck und Ziel wird, verändern sich dann nicht alle Werte in Bezug auf künstlerische Praxis? Nicht mehr ästhetische Fragen, nicht mehr die Fort- oder Umschreibung künstlerischer Traditionen, nicht mehr neue Verknüpfungen von Bedeutungen (Konzeptkunst) bestimmen das künstlerische Tun, sondern einzig »Erfolgsstrategien« oder »-taktiken« in Bezug auf den Markt? Was bedeutet das für Künstler, für Komponisten? Sind Fragen in Bezug auf Ästhetik, Inhalt, Utopien obsolet bzw. gehören sie einer Vergangenheit an, in der Anrufungen (an den Künstler – das Individuum) anders funktionierten?

Es wäre ebenso naiv, davon auszugehen, Künstler hätten sich früher ausschließlich an ästhetischen Kriterien orientiert, wie zu unterstellen, sie ließen sich heute allein von der Aussicht auf Markterfolg leiten. Solange es Menschen gibt, die Kunst als Profession betreiben, also von ihrer künstlerischen Praxis zu leben versuchen, sind sie darauf angewiesen, Auftraggeber, Abnehmer oder Mäzene für ihre Arbeiten zu finden. Deren Wünsche und Erwartungen fließen selbstverständlich in die künstlerische Praxis ein. In diesem Sinne kann es keine Autonomie der Kunst geben. Aber nicht weniger wichtig sind in der Geschichte der Kunst die Versuche, sich ästhetische Freiräume zu schaffen, die Erwartungen der Auftraggeber zu unterlaufen oder zu konterkarieren, sich um Vermarktung nicht zu scheren und/oder die materiellen Bedingungen künstlerischer Produktion selbst zum Gegenstand künstlerischer Praxis zu machen.

Sind Ihre Ausführungen zum »Anders anders sein« (s. dazu die »Januar«-Folge) als Versuch zu lesen, eine klitzekleine Öffnung hin zu einem Ausweg aus dem Hamsterrad ins Spiel zu bringen? Denn einfach nur besser bzw. intelligenter anders zu sein, um besser und anders auf dem Markt zu bestehen, würde ja genau jenen Strategien der Optimierung entsprechen, die Sie als »totalitäre Regime« des Selbst gebrandmarkt haben.

Wir sind es gewohnt, Dissens nach dem Modell von Norm und Abweichung zu denken: Wer »nein« sagt, widersetzt sich dem Konformitätsdruck, der Erwartung, sich an die Regeln des Spiels zu halten. Dieses Modell von Dissens kommt jedoch an seine Grenzen, wenn der Ruf, Normen zu brechen, selbst zur Norm wird, wenn wir, wie bei der unternehmerischen Anrufung, angehalten werden, anders zu sein. Die Formel vom Anders-anders-Sein ist ein tastender Versuch zu bestimmen, wie Dissens unter solchen Bedingungen zu denken und zu praktizieren wäre. Ob es einen Ausweg oder mehrere Auswege gibt, das muss sich zeigen, aber er kann weder in bloßem Nonkonformismus, noch erst recht in einer Übererfüllung der Norm des Anders-Seins bestehen.

Sie sprechen am Ende Ihres Essays von »kritischer Reflexion«. Hieße »Anders anders sein« demnach kritisch zu denken? Was bedeutete das für die Kunst? Wäre eine solche, aus der kritischen Reflexion geborene Kunst überhaupt Kunst? Könnte und sollte es Aufgabe der Kunst sein, das Hamsterrad des Marktes zu thematisieren, oder womöglich »erfahrbar« zu machen? Ist es überhaupt Kunst, wenn sie ihre Inhalte– z.B. Kritik am Markt – aus einem ihr fremden System bezieht?

Kritische Reflexion heißt, bezogen auf Kunst, sicher nicht einfach Kapitalismuskritik mit künstlerischen Mitteln. Also nicht Agitprop, nicht Thesenkunst. Es ginge eher darum, immer wieder Distanz zu suchen zur allgegenwärtigen Ratio des Wettbewerbs, zur Ökonomie der Aufmerksamkeit, ihrem Diktat des Neuen und der Dauerhervorbringung ästhetischer Sensationen, ohne sich jedoch in der splendid isolation reiner Selbstreferentialität einzurichten. Ich maße mir nicht an zu entscheiden, welche künstlerischen Positionen das leisten und welche nicht. Dazu müsste man sehr genau über einzelne Arbeiten sprechen.

Verbinden Sie mit dem »Sich-Entziehen« eine Vorstellung in Bezug auf die Kunst oder eher ein Verhalten in Bezug auf den Markt (s. dazu die »Januar«-Folge)? Und wenn letzteres zuträfe, wäre eine mögliche Utopie, möglichst viele könnten sich – würden sie nur kritisch und gründlich genug denken – den Anrufungen des Marktes entziehen? Bleibt dieser Gedanke nicht ganz und gar der Aufklärung verhaftet? Verbesserung der Gesellschaft durch vernünftige Reflexion?

Mein Vertrauen in die Kraft des Denkens ist durchaus begrenzt: Das Problem scheint mir weniger darin zu liegen, dass die Verhältnisse nicht durchschaut werden, sondern dass sie als unausweichlich erscheinen. Das TINA-Prinzip – There Is No Alternative – immunisiert gegen Aufklärung. Wir wissen oder ahnen zumindest, dass die verallgemeinerte Logik des Wettbewerbs desaströs ist, aber wir reproduzieren sie, weil uns die Phantasie fehlt, uns etwas anderes auch nur vorzustellen. Mehr als auf den neoliberalen Beschwörungen der Überlegenheit des Marktes beruht dieser Mangel an Vorstellungskraft auf der Allgegenwart von Wettbewerbsmechanismen im Alltag. Hier läge nicht zuletzt eine Aufgabe der Kunst, die ja über einen reichen Fundus an Erfahrungen verfügt, Räume der Imagination zu schaffen.

In unserer letzten Reihe im Sommersemester 2013 hatte Peter Fuchs den Begriff »Parallelmusik« anstelle von »Neuer Musik« vorgeschlagen und als ihr Alleinstellungsmerkmal ihre Selbstreferentialität postuliert, die erst dabei sei, sich einzulösen. Einige jüngere Komponisten beklagen jedoch die Gefahr des »Elfenbeinturms«, die fehlende Anbindung der Neuen Musik an ihre Gegenwart und die Gesellschaft. Sie haben daher die »Diesseitigkeit« für sich entdeckt. Mit »Diesseitigkeit« ist gemeint, die reine Selbstreferentialität der Musik aufzugeben zu Gunsten anderer, gesellschaftlich aktueller Inhalte. Was denken Sie in diesem Zusammenhang?

Peter Fuchs hat gewiss recht, wenn er der Neuen Musik ein hohes Maß an Selbstbezüglichkeit zuschreibt. Sie hat ihr ermöglicht, elaborierte Ausdrucksformen zu entwickeln und sie experimentierend weiter zu entwickeln. Zudem setzt sie der Kommerzialisierbarkeit Neuer Musik Grenzen. Zu Diesseitigkeit kann ich wenig sagen, außer dass der Begriff für mich insofern etwas befremdlich klingt, als er nur als Gegenbegriff zu Jenseitigkeit Sinn macht. Und ich habe nicht den Eindruck, als sei es sonderlich dringlich, sich heute gegen Transzendenzbezüge in der Musik zu positionieren. Wenn Diesseitigkeit allerdings meint, die Neue Musik solle sich anderen Klängen, anderen musikalischen Sprachen öffnen als denen ihrer eigenen Tradition, dann ist das eine Forderung, die erst einmal plausibel klingt. Aber weder Selbstreferentialität noch die Abkehr von ihr sind für sich genommen Garanten musikalischer Qualität.

Beim Lesen Ihres Essays hatte ich den Eindruck, als würden Sie unausgesprochen zwischen einer »guten« und einer »schlechten« Kreativität unterscheiden. Erstere wäre ausgerichtet auf eine wie auch immer geartete »Utopie«, letztere lediglich darauf, Distinktionen im Rahmen eines Regime des Neuen zu schaffen. Glauben Sie an die Möglichkeit einer nicht mit der Produktion von Alleinstellungsmerkmalen eng geführten Kreativität und wie sähe diese aus?

Kreativität ist ein Begriff, der heute geradezu inflationär verwendet wird. Dabei wird Kreativität vor allem als ökonomische Innovation im Sinne jener »schöpferischen Zerstörung« verstanden, von der Joseph Schumpeter schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesprochen hatte. Andere Bedeutungsfelder, etwa Kreativität als künstlerischer Ausdruck, als Spiel oder als befreiendes Handeln bleiben ausgeblendet. Man mag das bedauern, aber man kann solche diskursiven Engführungen nicht kurzerhand per Willensentschluss außer Kraft setzen. Sie sind wirksam, auch wenn man sie für problematisch hält. Vielleicht wäre es das Beste, den Begriff Kreativität für einige Jahre in den Giftschrank zu sperren und konsequent auf seine Verwendung zu verzichten, um so möglicherweise wieder Platz für andere, derzeit verschüttete Bedeutungsaspekte zu schaffen.

Welche Funktion und Bedeutung hat Musik und spezieller, die so genannte »Neue Musik« für Sie ganz persönlich? Spielt in Ihrer Musikwahrnehmung die »andere Andersartigkeit« eine Rolle, wird sie für sie wahrnehmbar oder trennt sich die Wahrnehmung der Musik von der Wahrnehmung der Bedingungen ihrer Entstehung?

Offen gestanden, bin ich weder ein sonderlich leidenschaftlicher noch ein sonderlich versierter Musikhörer. Ich spiele auch kein Instrument. Im Alltag höre ich Musik eher zur Entspannung und als Hintergrund. Dazu eignet sich Neue Musik schlecht. Auch das ist ein Grund, warum ich sie selten höre. Erfahrungen mit Neuer Musik sind für mich verbunden mit Konzertbesuchen, also mit der aus dem Alltag herausgehobenen Situation eines besonderen Ortes und der Live-Performance von Musikerinnen und Musikern. Da gibt es intensive Erinnerungen – an die Uraufführung von Hans Zenders Oper »Stephen Climax« 1986 in Frankfurt etwa oder einen Abend mit elektronischen Klangimprovisationen in einem Club am Prenzlauer Berg im letzten Jahr. Aber es sind nicht viele. Weil mir die musiktheoretischen Kenntnisse fehlen, um Bezüge zur Tradition oder kompositorische Prinzipien zu erkennen, begegne ich Musik eher affektiv (oft auch sentimental) als intellektuell. Wahrscheinlich bin ich, mit Adornozu sprechen, ein regressiver Hörer. [FIN]

 

 

 

 


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