SoSe 2013: Peter Fuchs, Neue Musik - theoretisch
Neue Musik – das ist für mich, einen Hardcore-Theoretiker, ein äußerst diffuser Ausdruck, jedenfalls keiner, der auf die Altäre anständiger Begriffe gehört. Was er bezeichnet, ist in seinen modernen Varianten eine Vielzahl von musikalischen Bemühungen, die sich offenbar absetzen gegen das, was man dann wohl Alte Musik nennen müßte, aber: Dieses Absetzen geschieht nicht als Einheit, sondern als eine Vielheit, die man ebendeswegen bisweilen der Postmoderne zurechnet, ein Vorgang, der die Unschärfe nicht gerade behebt. Man hat es mit einer undeutlichen Multi-Referentialität zu tun, damit auch mit der Schwierigkeit, so etwas wie eine Unio zu konstruieren, die irgendwie den Zusammenhang des Disparaten noch formulieren könnte.
Vielleicht war das der Grund, warum mich vier Komponist/inn/en Neuer Musik auf elektronischem Wege einluden, nach Berlin zu kommen. Sie benötigten – wörtlich – einen „naiven Beobachter“ und außerdem hätten sie Probleme mit ihrer „künstlerischen Subjektivität“. Das verblüffte mich ungemein, denn daß ich ein ‚naiver Beobachter‘ sei, hatte ich noch nie gehört, ein radikaler, ja, ein arroganter vielleicht, ein rücksichtsloser Beobachter auch, aber: naiv?
Und noch mehr überraschte mich die Referenz auf ‚künstlerische Subjektivität‘, da ich erstens gar nicht weiß, wie man jenseits sozialer Zuschreibungen überhaupt noch über Künstlerschaft, als sei sie eine Existenzform, reden könne, und zweitens schon gar nicht, was sich unter Denkbedingungen der Moderne noch mit dem ‚Subjekt‘ anfangen lasse.
Dies alles stimmte mich neugierig. Ich fuhr krankheitsbedingt nicht nach Berlin, lud aber Irene Kletschke, Leah Muir, Iris ter Schiphorst und Wolfgang Heiniger für eine eintägige Klausur zu mir nach Hause in Bad Sassendorf ein. Am 1.2.2013 fand die Diskussion statt. Sie wurde aufgenommen und wird vollständig publiziert werden.
In diesem Essay, das kein Protokoll ist, soll es dagegen nur um einige wenige, aber dafür zentrale Gesichtspunkte unserer Auseinandersetzung gehen.
1. Alte Musik/Neue Musik
Wenn man über den Unterschied zwischen alter und Neuer Musik nachdenkt, drängt sich auf, die Form von Musik, wie man sie kannte und noch kennt, und die Form der Musik, die sich dagegen als neu bezeichnet, zu bestimmen. Konzentriert man sich dabei zunächst auf die nicht neue Musik, läßt sich die These placieren, daß sie ihre Faszination gewinnt aus einer eigentümlich temporalen Komplizenschaft mit dem Bewußtsein. Anders formuliert: Die Zeit des Bewußtseins und die der alten Musik sind isomorph.
Diese Idee speist sich ihrerseits aus einer Theorie, die insbesondere psychischen Systemen eine besondere Zeitlichkeit beimißt, die, wie wir in der Systemtheorie bisweilen sagen, Zeit der Autopoiesis. Das psychische System wird konzipiert als ein System, das sich aus zeitkleinen, elementaren Ereignissen zusammensetzt, die im Entstehen schon wieder verschwinden. Für Ereignisse dieses Typs gilt, daß sie keine Zeit haben, sich selbst mit Identität auszustatten. Ehe sie präsent werden, also eine Art momenthafter Aktualität entfalten können, sind sie schon verschwunden. Die Ereignisse des Bewußtseins sind ‚Verschwindereien‘. Ein altes Bild dafür: EIN Gedanke ist KEIN Gedanke.
Aber das heißt, daß jene Ereignisse nur dann Ereignisse sind, wenn sie im Nachtrag, in Nachgang und Aufschub durch weitere Ereignisse in ihrer Gewesenheit bestimmt werden, und alle Folgeereignisse sind wiederum nur Folgeereignisse gewesen, wenn für sie dasselbe gilt: Sie sind nur gewesen, wenn … Ein berühmter Ausdruck für diese Zeitlichkeit ist Derridas ‚différance‘.
Die Idee, die sich anschließt, ist, daß Musik, ich sage vorsichtshalber: herkömmliche Musik, die gleiche Form der Zeitlichkeit realisiert. Es gibt in ihr nicht den singulären Ton. Die Identität eines Tones wird post festum bestimmt, sie wird differentiell oder gar différanciell gewonnen – im Kontext einer strukturellen und prozessualen Kombinatorik, die Wiederholung und Wiedererkennen ermöglicht, obgleich kein Ereignis identisch wiedererscheint.
Und das begründet dann die temporale Isomorphie, von der aus sich die Funktion alter Musik rekonstruieren läßt, wobei Funktion nicht so etwas bedeutet wie ‚tatsächlicher Zweck‘, wie ‚telos‘ oder ‚ontische Bestimmung‘, sondern nur: Rekonstruktion eines Problems, als dessen Lösung sich ein je interessierendes Phänomen instruktiv im Vergleich mit anderen Problemkonstruktionen bzw. Lösungsvorschlägen deuten läßt.
Von hier aus gesehen, fände sich die Attraktivität, die Faszination der alten Musik darin, daß sie die Anstrengung des Denkens (wie komme ich zu einem nächsten Gedanken?) substituiert durch die Form musikalischer Zeitlichkeit. Sie hakt sich gleichsam in die Temporalität des Bewußtseins ein. Wenn Musik erklingt, wird das Bewußtsein entlastet. Man bemerkt das daran, daß es sehr schwer ist, diese Musik zu hören und gleichzeitig stringent zu denken. Genauso schwer ist es, Musik zu genießen und zur gleichen Zeit kognitiv ihre Strukturen zu bestimmen, was mich auf die These gebracht hat: Man kann Musik nicht hören, wenn man sie dezidiert hört. Das ist also die Grundfigur, in der sich die basale Funktion herkömmlicher Musik vermuten läßt.
Darauf läßt sich die Änderung beziehen, die eintritt, wenn Neue Musik auf dem evolutionären Tableau erscheint. Es geht offensichtlich nicht mehr um so etwas wie Anstrengungsentlastung oder Strapazenvermeidung. Im Gegenteil: Diese Musik lebt, jedenfalls prima vista, aus dem Kontrast zu klassischer Musik bis hin zur Popmusik, aus der Entfaltung von Störpotentialen, von Irritationen, kombiniert allerdings mit dem Problem, daß Störungen irgendwann einmal nicht mehr stören. Der Eindruck kann sich einstellen, daß Neue Musik ein vornehmlich intellektuelles Publikum anzieht, vielleicht sogar eine intellektuelle Schickeria, die eine Hörvirtuosität zelebriert, beim Hören einer Musik aber, die kaum ein Straßenpublikum zu begeistern vermag.
Jedenfalls kann man zu der These gelangen, daß die Ursache dafür darin liegt, daß diese Musik die Entlastungsfunktion erklärtermaßen nicht wahrnimmt. Sie wirkt ‚entträumend‘. Es wird viele Leute geben, die deswegen die Neue Musik nicht als Musik wahrnehmen, sondern schlicht: als eine Form von Lärm.
Nun kann man mit Recht sagen, daß die alte Musik, wenn wir sie bis zum Rand der Moderne verfolgen, ebenfalls Störungen produziert, Schrillheiten, Dissonanzen, unerträgliche Erhabenheiten. Beispiele ließen sich bis Wagner mühelos finden. Die Frage ist: Woher kommt die zunehmende Irritationsbereitschaft, die sich nicht nur in der Neuen Musik ausbreitet, sondern als Signum der modernen Kunst gelten kann?
Namhaft machen läßt sich eine Generalstörung, eine maximale Veränderung, deren Start man mit Unschärfen im Detail in das 16./17. Jahrhundert verlegen kann. Es geht um eine Umstellung der primären Differenzierungsform der Gesellschaft von Stratifikation auf die sogenannte funktionale Differenzierung. Mit Stratifikation ist die geschichtete Ordnung des Mittelalters meint, eine Ordnung, die auf Hierarchie beruhte, also auf einem heiligen, unantastbaren Grund. Sie war gedeckt durch einen Gott, der diese Ordnung der Ungleichheit legitimiert mit Verweis auf einen himmlischen Ort, an dem irdische Ungleichheiten korrigiert, die Guten belohnt, die Schlechten bestraft werden. Diese Welt war nahezu ewig – bis auf die Endzeitvorstellung der Apokalypse und des Jüngsten Gerichtes, nach denen es aber ebenfalls ewig weitergeht, höllisch oder himmlisch, je nachdem. Nur das Fegefeuer ist befristet.
Diese Schichtordnung brach in einem atemberaubenden Tempo zusammen. An die Stelle der Schichten traten Funktionssysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Religion, Kunst etc., die zueinander nicht im Verhältnis eines Oben/Unten arrangiert sind, autopoietische Systeme, die geschlossen und weltweit operieren.
Ein Symptom für diese rasante Entwicklung ist, daß in der Kunst, die nun ein Funktionssystem unter anderen Funktionssystemen ist, also auch in der Musik in immer kürzeren Abständen, mithin in der Weise einer Hochtemporalisierung neue Epochen unterschieden werden: Renaissance, Barock, Rokoko, Klassik, Romantik und so weiter.
Wenn wir bei der Neuen Musik bleiben, die, lexikalisch gesehen, um 1910 angefangen haben soll, dann beginnt mit ihr eine ungeheure Binnendiversität von Stilen, die das Wort ‚Neue Musik‘ alles andere als instruktiv erscheinen lassen. Es ist null-informativ auch dann, wenn man von neuerer, von neuester, von allerneuester … Musik spräche. Wenn man Lust hat, paradox zu formulieren, könnte man sagen, diese Diversität ist ihr Alleinstellungsmerkmal. Sie erkennt sich als Einheit an ihrer Nicht-Wiedererkennbarkeit als Einheit.
2. Das Funktionsflimmern der Neuen Musik
Im Zusammenhang dessen, was wir eben ‚funktionale Differenzierung‘ genannt haben, tauchen Begriffe auf, die für eine Analyse dessen, was Neue Musik heißt, von besonderer Bedeutung sind. Einer davon ist: Polykontexturalität. Er hat nichts mit Kontext zu tun, sondern mit KontextuR. Der Begriff stammt von Gotthard Günther.
Kontextur bezeichnet einen zweiwertigen Bereich, der nicht überschritten werden kann. Das einfachste Beispiel ist: Sein/Nichts. Entweder etwas ist oder es ist nicht – tertium non datur. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Wenn man dieses Schema anwählt (und man tut es alltäglich immer wieder), sitzt man in ihm fest, man kann nicht herausspringen, denn selbst, wenn ‚Möglichkeit‘ gewählt würde, resultiert sofort die Frage: Existieren Möglichkeiten oder existieren sie nicht?
Diese universale Kontextur wird, wenn man so sagen darf, in der Moderne gesprengt, denn alle Funktionssysteme gravitieren für sich um eine binäre Unterscheidung, um einen Code, der dritte Möglichkeiten ausschließt. In der Wirtschaft haben wir es mit Haben/Nicht-Haben (Zahlung/Nicht-Zahlung) zu tun, in der Wissenschaft mit wahr/unwahr, im Recht mit Recht/Unrecht, in der Religion mit Immanenz/Transzendenz … Jedes dieser Systeme operiert autonom, jeder dieser Codes hat systemweite und zugleich weltgesellschaftliche Absolutheitsgeltung.
Polykontexturalität bedeutet demnach, daß diese Gesellschaft sich nicht mehr aus einem ordnungstiftenden Grund speist. Sie verfügt nicht mehr über die eine große bindende Erzählung: „Le grand récit a perdu sa crédibilité, quel que soit le mode d´unification qui lui est assigné: récit spéculatif, récit de l'émancipation.“ So hat es Lyotard formuliert.
Anschlußbegriffe zu Polykontexturalität sind Heterarchie und Hyperkomplexität. Heterarchie besagt, daß Hierarchien nur noch in Organisationen überzeugen. Ansonsten finden sich keine ‚heiligen Gründe‘ keine ‚Rangordnungen der Weihen‘ mehr, die gesamtgesellschaftlich plausibel wären. Hyperkomplexität bedeutet, daß man über den Ausfall aller Superplausibilitäten in der Gesellschaft informiert sein kann, wehmütig, sehnsüchtig nach Einheit, versessen auf fundamentalistische Evidenz, verzweifelt.
Jedenfalls scheint es, daß in dieser Weltgesellschaft kein Ereignis EIN Ereignis ist, sondern immer ein VIELERLEI-Ereignis, eine hinbeobachtete Multiplizität, die nicht mehr zu einer Identität findet. Selbst das Individuum verschwindet, es wird mit einem Ausdruck von Nietzsche zum: Dividuum. Niemand ist Einer oder Eine, wir sind, um es mit Musil zu sagen: Leute „ohne Eigenschaften“.
Jedoch, Sehnsucht hin, Sehnsucht her, die vorangegangene Überlegung zur Polykontexturalität bietet eine Chance, die Analyse Neuer Musik ein wenig zu schärfen. Denn es sieht ganz so aus, als nutze sie die Chance der Polykontexturalität gerade mit ihrer Diversität, mit dem Verzicht auf Einheit, aber damit einhergehend auch mit der Crux, auf kanonische Phraseologien wie die der ‚Künstlerschaft‘ verzichten zu müssen, die ja in gewisser Weise wieder eine spezielle Identität oder Individualität einführen, ein gleichsam exorbitantes Verhältnis zur Welt, das so oft kopiert wird, daß es verwunderlich ist, daß es irgendwo überhaupt noch überzeugt.
Allerdings: Diese anscheinend elegante Idee, Neue Musik beziehe sich funktional auf die polykontexturale Gesellschaft der Moderne, hat auch ihre Tücken, denn ebendiese Gesellschaft unterhält ein kurioses Verhältnis zu Störungen. Sie ist, was im Wort ‚Postmoderne‘ (leider denkbar unscharf, weil plakativ) ausgedrückt wird, im genauesten Verständnis totalisierteStörungsunempfindlichkeit. Anything goes.
Oder noch anders gesagt: Die Gesellschaft ist das System, das sich indifferent gegenüber jedem lokal prozessierten Sinn verhält. Sie ist fungierende Indifferenz wie zum Beispiel die Natur, ein Gedanke von Schelling, sie ist komplett anästhetisch. Sie hat keine Wahrnehmungsorgane, keinen Körper, keine Schmerzgrenze, nichts dergleichen.
Einwenden läßt sich, daß doch die Menschen betreffbar seien und alles andere als indifferent gegenüber Sinn. Aber an dieser Stelle muß an das Skandalon der Luhmannschen Theorie erinnert werden, die davon ausgeht, daß Menschen gerade nicht Bestandteile der Gesellschaft seien, sondern relevante Umweltgegebenheiten. Soziale Systeme prozessieren nicht Gedanken, das wäre sehr merkwürdig, und sie lassen sich auch nicht wiegen, verletzen, sie können nicht leiden, nicht lachen. Sie kennen nicht „Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit“.
Entscheidend ist, daß die Kunst, als Funktionssystem genommen, so indifferent ist wie die Gesellschaft, und: daß sie in der Moderne kaum noch irritiert, weil ihr Ansinnen, irritieren zu wollen, sattsam bekannt ist. Die Störung stört nicht mehr und selbst wenn jemand durch gepflegte Nicht-Störung stören will, überrascht auch das nicht mehr sonderlich. Stören zu wollen, wird zur artistischen Manier, zu einem leicht durchschaubaren Habitus.
Das bedeutet für Neue Musik, daß sie in ein seltsames ‚Funktionsflimmern‘ gerät. Einerseits ordnet sie sich ein in den Aufbau einer Gegenwelt zur ‚Einschläferung‘ oder Entlastung des Bewußtseins im Kontext herkömmlicher Musik, andererseits gerät sie dabei in den Strudel der Polykontexturalität, in der Irritation das Erwartete ist und nicht mehr irritiert.
3. Fremd- und Selbstreferenz – Ein Zugang zur Singularität Neuer Musik
Nun ist es aber möglich, daß die Frage nach der Störungsmöglichkeit, nach der Irritabilität durch Neue Musik noch nicht präzise genug gestellt ist. Damit kommt eine nicht nur für Musik sehr zentrale Unterscheidung in's Spiel, die von Fremdreferenz und Selbstreferenz.
Selbstreferenz der Musik ist die Weise, in der sich Musik in actu als Musik auf sich selbst bezieht. Das ist der Gedanke einer Absolutheit, einer Autonomie, einer In-sich-Gekehrtheit. Fremdreferenz liegt entsprechend vor, wenn Musik auf etwas referiert, was sie selbst nicht ist, wenn sie also die Thematizität der Kommunikation oder die Intentionalität des Bewußtseins kopiert, über etwas musiziert, über eine herzzerreißende Klage, über einen Sommermorgen, über eine Liebe, über einen Fluß wie die Moldau, wenn sie also beispielsweise Programmusik wird. Man könnte auch sagen, sie fungiert dann nicht als Zeichen für sich selbst, sondern als Zeichen für etwas anderes.
Damit aber wird ein Problemhorizont aufgespannt, der im Moment des Aufspannens zunächst kontraintuitiv wirkt. Die These ist (und ich weiß, daß man sie für starken Tobak halten kann), daß jedes Erleben und Fühlen und Denken sozial formatiert ist. Niemand kann denken und sprechen, ohne von einem Zeichenbestand Gebrauch zu machen, der nicht von ihm stammt. Niemand fühlt und erlebt etwas, das nicht im Moment der Bezeichnung (Ich liebe Dich ja) auf Verstehbarkeit hingetrimmt wird.
Dasselbe gilt für Musik: Ob eine Tonart als Moll (mollis) erlebt wird, als Dur (durus), ein Rhythmus als Bolero, als Walzer, als Tango, als Trauermarsch …, hängt von sozialen Formatierungen des Erlebens ab, die man dem Kind angedeihen läßt. Deswegen muß man die Musik fremder Kulturen regelrecht hören lernen.
Auf unsere Fragestellung hinformuliert: Die alte Musik hat bis auf Ausnahmen, die man diskutieren muß, stark fremdreferentielle Momente. Sie setzt ein sozial voreingestelltes Hören-Können voraus. Die Neue Musik wäre dann die Musik, deren Projekt darin besteht, diese Fremdreferenz zu minimieren, gar: zu löschen, und damit Musik als Musik hörbar zu machen. Der Umstand, daß die Zwölftonmusik gemeinhin als Startpunkt Neuer Musik behandelt wird, läßt sich dann erklären. Denn sie ist deutbar als Versuch, absolute musikalische Selbstreferenz zu erzeugen.
Dazu passen würde es, diese Erzeugung (oder auch nur dieses Experiment) als die Produktion einer extremen Irritation aufzufassen, die genau daran hindert, in diese Musik einzuschwingen und sich in ihr zu vergessen, sieht man einmal von ‚Fausti Weheklag‘ ab, die in Thomas Manns ‚Dr. Faustus‘ ja doch wieder ein starkes Maß der Fremdreferenz einführt, kein Wunder allerdings, insofern wir es mit einem Roman zu tun haben.
Andererseits läßt sich sehen, daß in der Neuen Musik Bifurkationen auftreten, Entwicklungsgabelungen für unterschiedliche Strömungen. Einige gehen den Weg gesteigerter Selbstreferenz, also einer starken Askese im Blick auf Fremdreferenz, andere beziehen gesellschaftliche Referenzen, also Fremdreferenzen mit ein. Aber das könnte ein Effekt des Funktionsflimmerns sein, von dem oben die Rede war.
Festhalten sollten wir an dieser Stelle, daß Selbst- und Fremdreferenz bis jetzt bezogen waren auf eine gewisse ‚Basalität‘. Es ging um das Komponieren und die Aufführungspraxis. Die Begriffe können auch gleichsam höherstufig eingesetzt werden. So spricht man etwa von Selbst- und Fremdbeschreibungen. Das bezieht sich schon deutlich auf Systeme (sagen wir hier: auf ein Sozialsystem Neuer Musik, das zu definieren noch aussteht), die beschrieben werden können von außen und in der Lage sind, sich selbst zu beschreiben.
Mein Eindruck ist, daß solche ‚Identitätskondensate‘ noch gar nicht oder besser: in Hülle und Fülle vorliegen, eben in jener Diversität, die es so schwer macht, einen Begriff der Neuen Musik zu gewinnen.
Über Selbstbeschreibungen wird hinausgegangen, wenn ‚Orte‘ der Selbstreflexion ausgewiesen werden, Instanzen beispielsweise, an denen sich Essays wie dieser verteilen lassen und in deren Rahmen sie diskutiert werden. Aus der Reflexion wird jedoch erst SELBSTreflexion, wenn Identität auf dem Spiel steht – im Sinne der Konstruktion der Einheit des Verschiedenen.
4. Neue Musik und Kommunikation
Musik wurde bislang nur im Modus einer gewissen Plausibilität genommen, als eine ‚Form‘ in der Welt, die evident mit dem Hören zusammenhängt. Wenn man den Hörsinn streicht, kann man, glaube ich, nur noch sehr angestrengt über Musik reden. Sicherlich gibt es Grenzfälle. Wir hatten beispielsweise einen sehr schwer behinderten Sohn, der unter anderem auch gehörlos war. Wir haben ihn dann immer auf ein altes Dampfradio gesetzt und die Bässe hochgedreht. Man sah, daß er sich an den Vibrationen freute, die durch sein Gesäß liefen. Aber dergleichen klammern wir aus. Stattdessen läßt sich fragen, ob man Musik nicht kommunikationstheoretisch bearbeiten könnte.
Nun läßt sich dagegenhalten, daß Hinz und Kunz die Idee haben, daß alles Mögliche Kommunikation sei – und ganz besonders die Musik. In den meisten Fällen ist diese Idee begriffsfrei orientiert. Man versteht dann unter ‚communicatio‘ so etwas wie Verbindung, Verschmelzung, Gemeinschaft. Kommunizieren ist etwas Positives, so als ob dann Nichtkommunizieren, den Kopf wegwenden, Anschreien, Gewalt etc. nichts mit Kommunikation zu tun habe. Wenn (und aus meiner Sicht idiotischerweise so genannte) ‚verhaltensoriginelle‘ Jugendliche zuschlagen, dann ist dieses Verhalten doch fraglos als Botschaft, als Mitteilung lesbar.
Aber ich will mich nicht ärgern. Wir gehen einfach davon aus, daß es üblicherweise Musikstücke gibt, die einen Titel haben, einen Namen tragen, isolierbar sind, weil sie einen Anfang und ein Ende mehr oder minder scharf markieren, wobei, am Rande gesagt, diese Markierungen selbst ein Moment der Entwicklung von Musik waren und sind.
Als systemtheoretisch orientierter Soziologe fasse ich tentativ Musikstücke als Äußerungen auf, als utterances von sehr kompakter Art. Als Äußerungen sind sie eingebettet in die Operativität von Kommunikation, die darin besteht, die Selektivität von Information, Mitteilung und Information zu erzeugen und aufeinander zu beziehen.
Die Information ist dasjenige, wovon die Äußerung handelt, worauf sie referiert, mithin das, was wir vorhin Fremdreferenz nannten, dasjenige, worin sie einen Unterschied macht, der einen Unterschied macht. Die Mitteilung ist die Form, in der die Information offeriert wird. Das Verstehen ist der Anschluß, der zwischen Information und Mitteilung unterscheidet und mehr oder weniger die eine oder andere Seite präferiert.
Wichtig ist ferner, daß die Information nicht in der Äußerung steckt, als wäre sie ein Paket, das einem zugestellt würde und in dem man nach dem Auspacken die enthaltene Information finden könnte. Sie wird im Nachtrag erzeugt, also in jener Post-festum-Zeitlichkeit, die wir anfangs diskutiert haben.
Wir probieren jetzt aus, was passiert, wenn man sagt, ein Musikstück lasse sich beobachten als eine zeitlich zu begreifende ‚Kompaktkommunikation‘, wobei ich einen Ausdruck für Kunstwerke von Niklas Luhmann aufgreife. Es wäre dann eine Art ‚Verschleifung‘ von Information (Fremdreferenz), Mitteilung (Selbstreferenz) und Verstehen (Anschluß). Dabei kann, und ich halte das für ganz wichtig, die Mitteilung (das ‚Wie‘ dessen, worum es geht) selbst als Information begriffen werden. Es kann zu seltsamen Schleifen kommen, aber immer in dem, was als nächstes geschieht.
Wenn meine Frau zu mir sagt: „Du mußt jetzt den Müll rausbringen!“, ist die Information einfach zu fassen: Eimer nehmen, raus gehen etc. Aber es ist möglich, sie in dem ‚mußt‘ aufzunehmen als: „Ich will nicht mehr müssen müssen, ich bin Akademiker. Soll ich diese subordinierte Tätigkeit schon wieder durchführen?“
Wenn ich eine Sinfonie von Brahms höre, kann ich das Musikalische lesen als Mitteilung von Grauen, Klage, Trauer, als Elegie oder: diese Information löschen und auf die Selbstreferenz der Musik hören. Und oben wurde ja schon skizziert, daß möglicherweise die Extinktion der Fremdreferenz bezeichnend sein könnte für das Projekt Neuer Musik.
Daraus folgt die Frage, ob – gesetzt, es ginge um diese Löschung – noch die Rede sein könnte von einer Kompaktkommunikation oder ob man nicht umschalten müßte zu der These, daß das Werk nur noch eine Art von Anlaß oder ein Programm für zahlreiche Kommunikationen über es selbst darstellen würde. Gemeint ist jetzt die Differenz zwischen einem Musikstück, das durch sich selbst überzeugt, durch eine Art Evidenz, die man einmal Schönheit genannt hat, oder ob es eine Art von Strittigkeit anbietet, nicht automatisch plausibel ist und nicht wie von selbst als Schönheit seine Erscheinung hat. Eine Parallele wäre, bezogen auf die bildende Kunst, die Fettwanne von Beuys und der Putzfrauenskandal.
Kurz, und das müßte intensiv diskutiert werden, es sieht so aus, daß sich hier eine evolutionäre Bifurkation ausmendelt, in der die Unterscheidung schön/häßlich als Direktive, als Leitcode nicht mehr im Vordergrund steht. Entscheidend wäre dann die Frage: Was tritt an die Stelle dieser Unterscheidung? Alt/neu? Langweilig/spannend? Interessant/uninteressant? Irritierend/nicht-irritierend? Man sieht schnell, daß all diese Differenzen nicht sehr spezifisch sind – weder für die Kunst noch für die Neue Musik. Was bliebe, wäre eine Tautologie wie a rose is a rose is a rose, mithin: Kunst ist Kunst ist Kunst … und so auch: Neue Musik ist Neue Musik ist Neue Musik…
Neue Musik wäre nichts weiter als das, was als Neue Musik bezeichnet wird – unter gegebenen günstigen Marktbedingungen. Auf diesem Hintergrund könne man das Denken aufgeben und sich nur noch wechselseitig bewundern.
5. Präliminarien zur Funktionsbestimmung der Neuen Musik
Zunächst ist daran zu erinnern, daß wir die moderne Gesellschaft als funktional differenziert beschrieben haben, als zusammengesetzt aus primären Funktionssystemen wie Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Politik, Religion etc., aber eben auch aus dem System der Kunst, in die ihrerseits Subsysteme wie die Musik und die Neue Musik eingebettet sind.
Natürlich kann man das Zusammenführen von ‚System‘ und ‚Kunst‘ schrecklich finden, aber ich finde es nicht schlecht, sich mitunter solche romantischen Affekte zu sparen. Der Systembegriff dient hier wie der Funktionsbegriff als eine Heuristik, als eine Formfindungsform für das Finden anderer Erklärungen, anders möglicher Beschreibungen, für das Aufspannen einer vielleicht fruchtbaren Alternativität. Wenn zum Beispiel von Funktionssystemen die Rede ist, kann sofort die Frage kommen, welche Funktion übernimmt die Kunst und in Sonderheit: die Neue Musik?
Wenn man an dieser Stelle angekommen ist, springt immer jemand auf mit ontologisch verwirrtem Blick und ruft: „Kunst hat keine Funktion, sie hat keinen Zweck – außer sich selbst!!!“ Aber das heißt ja nur, daß der- oder diejenige sich echauffiert in Unkenntnis einer Theorie, die nicht von einer wirklich existierenden Funktion ausgeht, sondern von einem ‚Äquivalenzfunktionalismus‘. Wenn man also die Funktion eines Phänomens ermitteln will, konstruiere ich, wie oben schon skizziert wurde, ein Problem, als dessen Lösung das Phänomen gedeutet werden könnte in einem Alternativenset anders möglicher Lösungen oder anders möglicher Problemkonstruktionen.
Ein Beispiel dafür wären Intimsysteme, also einander in Zweierbeziehungen in Liebe verbundene Menschen. Da geschehen hoch merkwürdige Dinge. Man schwört einander, sich ewig zu lieben, obwohl man da absolut nicht sicher sein kann; man säuselt am Telephon, daß man den ganzen Tag, jede Sekunde an den Anderen gedacht habe und daß er oder sie für einen das Wichtigste auf der Welt sei, alles Aussagen, die schon empirisch nicht stimmen können und offenbar trotzdem eine gewisse Zeit, abgestützt durch allerlei Symbole, funktionieren.
Wenn man sich nach der Funktion fragt, bietet sich an, an das zu denken, was ich oben als Polykontexturalität und Dividualität bezeichnet habe, als die Unmöglichkeit, in dieser Gesellschaft als der Eine, als eine Einzige komplett relevant zu sein. Und genau an dieser Stelle mendelt sich auf dem Hintergrund romantischer Liebesmodelle die reziproke Markierung von Höchstrelevanz aus: Wir beide sind eins! Ich kann ohne Dich nicht leben. Man könnte auch von Komplettinklusion reden. Wenn man dazu funktionale Äquivalente sucht, kann man an Psychotherapie denken, die dann aber das Moment der sexuellen Betreuung ausschließt, oder an absurde Ganzheitlichkeitspraxen, in denen einem aber nicht die Fußnägel geschnitten werden, und so weiter.
Wenn wir diese Methode jetzt auf die Kunst beziehen, können wir an prämoderne Vorstellungen denken, die sich aber immer noch finden. Da ist die Idee des Schmucks, des Dekors, der Ausstattung von Räumen, der Eröffnung von Feierlichkeiten, der Anzeige eines sozialen Status, der Repräsentation. Von dort führt der Weg zur Imagination von ‚Schönheit‘, also eines besonderen, eines gesuchten Erlebens, das die Existenz bereichert und mit einer Art Köstlichkeit beschenkt.
Es ist dann, glaube ich klar, daß Schönheit in dieser Prägnanz bei der Beobachtung der modernen Kunst nicht mehr flächendeckend überzeugt. Der Gegenwert ‚Häßlichkeit‘ macht eine eigentümliche Karriere, anfangs vielleicht als die Fähigkeit, am Häßlichen das verborgen Schöne zu finden und vorzuführen, später sieht es dann so aus, als ob diese Differenz selbst nicht mehr in vollem Umfang leitend sei.
Dieser Eindruck stellt sich bei Neuer Musik prima facie ebenfalls ein. Niemand ‚zergeht‘, Neue Musik rezipierend, in Anbetung des unfaßbar Schönen, aber auch nicht in Adoration einer Musik, in der der Gegenwert des Häßlichen in der Schönheit einen seltsamen re-entry erfährt, einen Wiedereintritt auf einer Seite der Unterscheidung, der eine gewisse Wahrnehmungsvirtuosität voraussetzt.
Wenn man für den Moment die Differenz schön/häßlich suspendiert, ließe sich aber denken, daß in der Kunst, damit immer auch in der Neuen Musik, nach und nach ein anderer, ein besonderer Umgang mit Kontingenz um sich greift.
Kontingenz ist ein uralter Ausdruck für das, was weder notwendig noch unmöglich ist, also für das, was nicht sein müßte, aber sein könnte. Und die Idee ist, daß die Kunst der Moderne mit Kontingenz ernstmacht. Das würde bedeuten, daß man die Funktion der Kunst rekonstruieren könnte als: das Aufblenden anderer Möglichkeiten im Blick auf ansonsten routinierte Wahrnehmungen. Es ginge um De-Routinisierung, Entplausibilisierung, Entüblichung, um Erstaunlichkeitsgewinne … die einschlägige Formulierung ist: um das Rücken der Welt in's Licht anderer Möglichkeiten.
Allerdings: Diese Funktionsbestimmung ist angesichts der modernen Gesellschaft sehr allgemein. Denn die Moderne ist ohnehin schon durch fortwährende Kontingenzproduktion gekennzeichnet. Man kann immerzu damit rechnen, daß das, was man eben noch für gültig hielt, schon im nächsten Moment eine Wahrheit von gestern ist. Das macht jegliche Art von Fundamentalismus zu einem äußerst schwierigen Unterfangen der Abschottung gegen Informationen, die sonst in der Welt kursieren. Und ich vermute, daß die Kunst der Gegenwart kein Alleinstellungsmerkmal hätte, wenn es sich nur darum drehte, andere Möglichkeiten des Beobachtens vorzuführen oder zu initiieren. Wodurch will man in einer Welt der Überraschungen noch überraschen?
An diesem Punkt muß noch ein wenig Theorie nachgereicht werden. Im Kern geht es darum, daß wir uns als psychische Systeme denken können, deren Operationen nicht nur, aber wesentlich Beobachtungen sind. Beobachten, das bedeutet, Unterscheidungen zu nutzen und im Unterscheiden die eine oder die andere Seite der Unterscheidung zu bezeichnen.
Da gibt es dann die Rede von verschiedenen Ebenen der Beobachtung, der ersten und der zweiten Ordnung, aber auch von der einfachen Operation des Referierens, in der einfach nur referiert wird, ohne die zugrundeliegenden Unterschiede eigens zu unterscheiden: „Gib mir die Geige!“ – „Jau!“.
Das Besondere der Funktion der Kunst läge auf diesem Hintergrund darin, daß die Kunst an Artefakten gleich welcher Art zur Erscheinung bringt, daß in allem, was durch das Kunstwerk beobachtet wird, sich zeigt, daß in allem Beobachten ständig etwas verschwindet. "Die Welt ist immer vollzählig", hat Rilke einmal in einem Brief an die Gräfin Mirbach-Geldern-Egmont formuliert, aber die Kunst demonstriert, daß die Welt niemals vollzählig ist, wenn beobachtet wird, weil die Welt nur beobachtete Welt ist.
An dieser Konstruktion ist interessant, daß sie sich rückbeziehen läßt auf die alte Unterscheidung von schön und häßlich. Schönheit war immer das Undefinierbare, das Unerzwingbare, dessen Erleben an einen Kairos gebunden ist, wenn ich von Dogmatiken absehe.
Das große ABER ist, daß es schwer fällt, das Projekt der Neuen Musik irgendwie in diese Funktionsbestimmungen einzuordnen. Um die Erzeugung schöner Objekte oder Quasiobjekte scheint es nicht zu gehen, auch nicht um das Vorführen von Kontingenz in einer ohnehin überaus kontingenten, modernen Welt. Das Erscheinen-lassen dessen, daß in jeder sinnförmigen Operationen immer etwas verschwindet, überzeugt angesichts der Neuen Musik ebenfalls auf Anhieb nicht.
Eine elegante Lösung wäre es natürlich zu sagen, die Neue Musik habe keine Funktion, noch eleganter: Sie habe die Funktion der Nicht-Funktion. Allerdings gehen wir ja eh davon aus, daß wir nicht von existierenden Funktionen reden, sondern von Konstruktionen, die an Phänomenen interessierte Beobachter anfertigen. Und das gestattet es, weitere Begriffe einzuführen, mit deren Hilfe sich vielleicht eine passende Konstruktion der Funktion bewerkstelligen ließe.
6. Die Akzeptanz und das Medium der Neuen Musik
Mit jeder Kommunikation ist das verknüpft, was wir eine ‚Selektionsofferte‘ nennen, eine Art Sinnzumutung, und sei es nur, daß jemand zuhören und nicht einfach weggehen soll. Im Alltag gibt es viele Möglichkeit, solche Selektionsofferten zu verstärken: Man kann lauter werden, die Mimik verändern, Drohgebärden inszenieren, aber eine ganze Reihe dieser Offerten ist systematisch, tritt immer wieder auf und führt, was die Annahme anbetrifft, hohe Unwahrscheinlichkeit mit sich.
Ein Beispiel hatten wir schon besprochen. Warum sollte mich jemand für höchstrelevant halten sollen? In allem, was ich bin, tue, anstelle? Genau dafür hat sich das Medium Liebe entwickelt, und solche Medien heißen ‚symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien‘. Man setzt Symbole ein: Blicke, Blumen, passende Worte, passendes Schweigen, passende Berührungen, die generalisiert funktionieren, nicht nur einmal, sondern auch bei anderen Menschen. Sie steigern die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz, der Ratifikation derart unwahrscheinlicher Sinnzumutungen. Andere Beispiele sind Macht in der Politik, Wahrheit in der Wissenschaft, Geld in der Wirtschaft, Glaube in der Religion etc. Und in der Kunst konnte jedenfalls lange Schönheit dafür gelten.
Wenn wir gleich bei der Neuen Musik bleiben, treibt sie jene Unwahrscheinlichkeit und das damit verbundene Akzeptanzproblem, je näher wir der Gegenwart kommen, auf die Spitze, wenn und insoweit in ihrem Zentrum nicht die Entlastung steht, sondern die Störung, und dann ist sofort die Frage der Unwahrscheinlichkeit da. Warum sollte sich jemand das antun, wenn er nicht gerade ein ohnehin zeitentlasteter und möglicherweise gelangweilter Mensch ist?
Spekulativ und spielerisch gesonnen, ließe sich davon ausgehen, daß Neue Musik noch kein eigenes, symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium entwickelt hat, das wie die Temporalität der Alten Musik als Bewußtseinsentlastung begreifbar ist. Könnte man dann in mephistophelischer Manier ein Ersatzmedium unterstellen?
Ein Vorschlag: Der Erfolg Neuer Musik ist wesentlich und weltweit an Großstädte, an Urbanitäten geknüpft, die intellektuelle Szenen beherbergen, die auf Distinktionsgewinne im Sinne Bourdieus angewiesen sind. Neue und Neueste Musik, über die man so reden kann, daß andere Menschen merken, daß man etwas davon auf eine Weise versteht, daß sie nur noch tun können, als ob sie es auch verstünden, wäre dann ein Attraktor, allerdings ein sehr gefährlicher. Denn diese Szene denkt (ich vergröbere hier kaum) nicht unbedingt verantwortlich. Distinktionsgewinne halten nicht lange, man braucht immer schneller Neuestes. Wir leben ja in Zeiten der Hochtemporalisierung. Und Neue Musik liefe dann in einem Hamsterrad. Sie unterläge der Gefahr einer Inflation.
Aber wir verlassen schnell dieses Argument, es müßte empirisch unterfüttert werden. Ein Gegenargument wäre: Die Neue Musik überzeugt durch sich selbst. Eine Anregung könnte es sein, dieses ‚Durch sich selbst‘ zu präzisieren anhand der Idee und der Frage, ob es nicht immer noch Schönheit sei, durch die Neue Musik ihre Eigenevidenz erzeuge, aber in einer re-definierten, umarrangierten Form.
7. Die Schönheit der Neuen Musik und der höhere Indifferenzpunkt
Eine Spur zu jener Re-Definition von Schönheit wurde schon gelegt, als oben von der Minimalisierung bzw. Extinktion der Fremdreferenz durch Neue Musik die Rede war. Diese Reduktion läßt sich nämlich lesen als Ausbruchaus der Sinnform.
Sinn ist in der Systemtheorie auf phänomenologischer Grundlage konzipiert als Effekt der Selektion von etwas aus einem Horizont anderer Möglichkeiten. Sinn ist immer: Selektivität. Sinn liegt nicht vor, wenn ein Ereignis stattfindet, das sich nicht mit einem Horizont der Auswahl verknüpfen läßt.
Wenn ich etwa hier das Wort ‚aquak‘ schreibe, wird kaum jemand (außer Leute, die mich kennen) etwas mit dem Wort anfangen können. Wenn ich dann erkläre, daß es eine sprachliche Erfindung ist, die sich darauf bezieht, daß es zwar ein Gegenwort zu ‚hungrig‘ gibt, nämlich ‚satt‘, aber kein Antonym zu ‚durstig‘, und daß eine meiner Töchter in begnadeter Sprachgewalt sich das Wort ‚aquak‘ ausgedacht hat, dann ist der Sinn klar: Aha!
Das nun interessierende Resultat ist: Sinn kommt nur intentional bzw. thematisch vor. Er ist immer (ganz in der phänomenologischen Tradition Brentanos und Husserls) Sinn von etwas. In unsere Diskussion eingepaßt, heißt dies: Sinn kombiniert unausweichlich, wie es scheint, Fremd- und Selbstreferenz. Er ist unverlaßbar. Was als Sinnwidrigkeit begegnet, ist absurd oder – mit Paul Tillich – formuliert: dämonisch. Dennoch: Alles, was in einer Sinnwelt geschieht, ist, auch wenn es als Sinnloses bezeichnet wird, einbegriffen in Sinn. Mit einem Begriff von Luhmann formuliert: Sinn ist eine nur einseitig verwendbare Zweiseitenform. Ich komme darauf zurück.
Wenn Neue Musik tatsächlich das Projekt betreibt, in ihrem Vollzug Fremdreferenz kollabieren zu lassen, dann wäre schon der Versuch und ein minimales Gelingen gleichbedeutend mit dem Experiment der Sinnlöschung, mithin der Kreation eines Erlebens jenseits der Differenz von Identität und Differenz, womit das Erreichen eines ‚höheren Indifferenzpunktes‘ verknüpft wäre, wie ihn sich die romantische Philosophie, Schelling folgend, erträumte.
Aber nicht nur die romantische Philosophie, sondern mystische Bestrebungen weltweit wären in diesem Kontext zitierbar, deren Exerzitien die Möglichkeit des Erlebens von Zuständen des Nichtzustandes anstreben, die paradoxe Erfahrung des Nicht-Sinns allen Sinns, das absolute Schweigen, das Nirvana. Ein hoch elaboriertes Beispiel wäre der Zenbuddhismus, aber auch die unio mystica der christlichen Tradition.
Spannend ist, daß jener ‚höhere Indifferenzpunkt‘ immer auch eine mehr oder minder explizite Verwandtschaft mit ‚Schönheit‘ unterhält. Sie ist das, wofür es keine Worte gibt, das nur in sich selbst Unterschiedene, von dem Hölderlin, Heraklit beiziehend, sagt, es sei ‚Grund und Maß der Schönheit‘. Oder mit Kant formuliert: Das Schöne sei die Seinsart des Interesselosen.
Jene Re-Definition der Schönheit entspräche damit der Extinktion von Fremdreferenz, die wir der Neuen Musik zugesprochen haben. Sie wäre in den Worten von Isidore Ducasse, Comte de Lautréamont: " ...beau comme la rencontre fortuite d’un parapluie et d’une machine à coudre sur une table d’opération" (schön wie die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Operationstisch). Das würde, am Rande bemerkt, die immense Rolle der Aleatorik in der modernen Kunst wie in der Neuen Musik erklären.
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